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Auf das Leben

Titel: Auf das Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Rothschild Oliver Weiss Mirjam Pressler
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ihren Ohren und an einer dünnen Halskette aus Zwirn, die meine jüngste Schwester einmal für sie gemacht hatte.«
    Er schwieg und schaute hinaus zum Gärtner. Es war still im Wintergarten.
    »Sie war eine von Hunderten, nur eine von Hunderten. Das war nicht zu ändern. Ich zog sie heraus und brachte sie zu dem Haufen. Dann ging ich zurück und holte die nächste Leiche. Ich schaute nicht ins Feuer, und ich verbot mir zu weinen. Das knisternde Geräusch, wenn die Knochen verbrannten, und der Geruch nach Benzin und Leichen war überall. Überall.
    Irgendwie bin ich davongekommen. Wissen Sie, Rabbi, ich erinnere mich an viele Dinge ganz genau und an andere überhaupt nicht. Es ist seltsam. Ich erinnere mich, dass ich die Stimme meiner Mutter hörte. Sie rief mich. Irgendwie. Sie sagte: Komm zum Rand des Feldes, komm zum Rand des Feldes. Also nahm ich meine Schaufel, suchte mir ein paar Lumpen und ging, als hätte ich eine Arbeit zu erledigen, zum Rand des Feldes. Da war ein Graben, ich sprang hinein und rannte los, immer weiter, an den Rest erinnere ich mich nicht. Aber ich erinnere mich, dass ich am nächsten Morgen ein ganzes Stück entfernt war und dass ich nicht erfroren und noch immer am Leben war. Und tief in mir wusste ich, dass der Rest des Kommandos nicht mehr lebte. Und dann … nun, da waren Soldaten, und sie waren freundlich, und an die folgenden Wochen erinnere ich mich nur verschwommen. Ich war krank, das weiß ich noch. Sehr krank. Aber ich war ein junger Mann, gerade mal siebzehn, und ich wusste, dass meine Mutter gewollt hätte, dass ich am Leben bleibe, deshalb tat ich alles, um wieder zu Kräften zu kommen. Zu guter Letzt wurde ich nach England gebracht, und hier bin ich immer noch. Ich bin jetzt Großvater, wissen Sie? Meine Enkelin ist zwei Jahre alt. Es hat sich gelohnt, durch diesen Graben zu rennen. Aber seit jenem Tag habe ich nie wieder in der Erde graben wollen, kein einziges Mal, und es fällt mir schwer genug, das Prasseln eines Feuers zu hören, Rabbi, oder den Rauch zu sehen. Sogar wenn ich in den Garten Eden käme, Rabbi, würde ich keine Schaufel anfassen. Aber wir mögen diesen Garten, deshalb habe ich gelernt, mich damit abzufinden.«
    Mein Tee war kalt geworden. Der Keks lag aufgeweicht auf dem Unterteller. Ich saß unbeweglich da. Draußen prasselte das Feuer. Neue trockene Ranken ließen es kurz aufflackern.
    »Es gibt etwas, was ich Ihnen sagen muss, Rabbi. Oder vielleicht eher etwas, was ich Sie fragen muss. Vor zehn Jahren, nein, elf, bin ich hingefahren. Zu Besuch. Um alles noch einmal zu sehen. Masha hat mich begleitet. Ich hätte es allein nicht ausgehalten. Sie hat auch ihre ganz eigene Geschichte, aber die ist für ein andermal. Nun, ich fuhr also dorthin. Ich war nicht sicher, ob ich es wirklich tun sollte. Ich hatte keine Ahnung, was ich finden würde.«
    »Und? Was haben Sie gefunden?«, fragte ich, um das Schweigen zu unterbrechen.
    »Nichts. Gar nichts. Kein Zeichen, keine Gedenktafel, nichts, keinerlei Erinnerungszeichen. Sie haben auf dem ganzen Gelände Häuser gebaut, Rabbi, Häuser und eine kleine Fabrik und eine Straße. Erst war ich mir nicht sicher, ob ich den richtigen Ort gefunden hatte, aber ich ging zurück zum Bahnhof und lief die ganze Strecke noch einmal zu Fuß ab. Ich suchte nach irgendwelchen Orientierungspunkten. Es gab einen kleinen Hügel, der war noch da, die Hauptstraße war noch da - aber sonst nichts. Alles andere war verschwunden, als hätte es nie existiert. Das Lager, die Felder, der Graben. Wir hatten ein Auto mit einem Fahrer gemietet. Wir hatten ihm nicht viel gesagt - wir hatten schon von hier aus geregelt, dass er uns am Flughafen abholt -, aber er wusste offensichtlich, dass wir aus einem bestimmten Grund gekommen waren. Als wir ihn aber fragten, ob er das alte Lager kenne, zuckte er bloß mit den Schultern und sagte: ›Was für ein Lager? Hier gab es kein Lager. Sie sollten sich lieber Krakau anschauen. ‹
    Ich sagte: ›Doch, hier hat es ein Lager gegeben.‹
    Aber das war schon alles.
    Ich habe mir dann eine Handvoll Erde von dort mitgenommen. In einer Plastiktüte vom Flughafen, die ich bei mir hatte. Es war nur so ein Impuls. Ich habe keine Ahnung, wo das Grab meiner Mutter ist oder wo ihre Asche jetzt ist - aber diese Erde stammt von jenem Ort, wo es geschehen ist. Sie ist alles, was ich habe. Und machen wir uns doch nichts vor, Rabbi, Sie wissen so gut wie ich, dass die Ärzte nichts mehr für mich tun können. Ich bin alt

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