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Auf das Leben

Titel: Auf das Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Rothschild Oliver Weiss Mirjam Pressler
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gab es einen Schlag, und das Hoftor und ein Teil der Mauer waren eingeschlagen. Soldaten drängten herein. Sie schauten nicht in den Abtritt oder in den kleinen Schuppen, sondern liefen um das Hauptgebäude herum und kreisten es ein. Wir hatten eine schul aus Holz, wissen Sie. Eine sehr hübsche. Sie knarrte im Wind, und es gab auch eine Menge undichter Stellen, aber es war ein hübsches Gebäude, in dem es immer nach Harz und Kerzen roch. Ich kann es jetzt noch riechen …
    Dann kamen ein paar andere, Offiziere. Ich erinnere mich noch an ihre glänzenden Stiefel, die auf das Pflaster knallten. Ich verkroch mich unter dem Dach des Abtritts und schaute durch einen Spalt in den Dachziegeln hinaus.«
    Wieder eine Pause. Er rührte weiter, starrte in die Ferne.
    »Dann zündeten sie das Gebäude an. Einfach so. Mit allen Menschen darin. Sie blockierten die Türen und gossen Benzin aus ihren rechteckigen Kanistern aus. Auf der anderen Seite, wo ich nicht hinschauen konnte, musste dann jemand ein Streichholz angezündet haben, und wusch!, stand die ganze schul in Flammen. Innerhalb von Sekunden. Und alle waren sie drinnen: Mein Vater. Meine Mutter. Mein älterer Bruder. Meine beiden Schwestern. Meine beiden Onkel und Tanten. Meine Großmutter. Der Rabbiner. Der Kantor. Meine Freunde vom cheder. Alle waren dort. Außer mir. Und sie waren meinetwegen dort.«
    »Ihretwegen?«, fragte ich. Mein Mund war trocken vor Aufregung.
    »Meinetwegen. Sehen Sie, das hätte meine Bar Mizwa sein sollen. Damals an jenem schabbes. Ich war vorbereitet. Ich hatte mit dem Rabbi gelernt. Alles, was ich zur Tora-Vorlesung wissen musste, alle Segenssprüche. Ich hatte einen neuen tallis. Meine Mutter hatte ein paar Kuchen gebacken. Ich hatte einen neuen Anzug an und neue Schuhe. Und plötzlich - und plötzlich - na ja, das. Ich kauerte unter dem Dach, ich hörte die Schreie, das zerbrechende Holz, die Flammen, die Schreie … Ich habe irgendwo gehört, dass die Märtyrer immer Hymnen singen. Ani ma’amin . Oder das Sch’ma Israel . Rabbi, so war es nicht. Sie haben einfach nur geschrien. Ich versuchte, mir die Ohren zuzuhalten. Ich glaube, dass sich wenige der Menschen an ihren Stimmen erkennen konnte. Überall war Rauch und der Gestank von brennendem Papier, von brennendem Holz, von brennender Kleidung, von brennendem Fleisch. Ich weiß nicht, wie lange es gedauert hat, ich hatte die Augen geschlossen, ich würgte, ich versuchte, mich still zu halten, mich ruhig zu halten. Es war Instinkt, nur Instinkt. Vielleicht verlor ich sogar das Bewusstsein. Wer weiß? Aber plötzlich war es dunkel. Abend. Mozej schabbes. Da war noch immer der Geruch nach Asche, aber alles war ruhig. Ich kletterte hinunter, trat hinaus und rannte davon. Ich schaute nicht hin zur schul. Die Deutschen hatten fast das ganze schtetl verbrannt. Aber aus irgendeinem Grund waren die Hütten neben der schul verschont geblieben, genauso wie das Bauernhaus am Dorfrand und ein paar andere Steinhäuser, alles Übrige war verkohlt und zerstört. Das meiste war jedoch einfach weg. Die Tiere auch. Alles war still, tödlich still.
    Ich suchte erst Schutz in einer Ecke, und dann ging ich weg. Ich lief einfach los. Den Rest erzähle ich Ihnen nicht. Nicht jetzt zumindest. Aber ich fand den Weg in den Wald, wo ich ein paar Partisanen traf - ich hatte Glück, denn manche brachten Juden um. Ich war dreizehn, ich war gesund, ich konnte ein bisschen auf mich selbst aufpassen. Und dann, 1946, schloss ich mich einer Gruppe an, die nach England ging. Um dort zu arbeiten. Warum nicht?, dachte ich. Ich hatte nichts mehr zu suchen in meiner alten Heimat.
    In den Duschräumen der Arbeiter kann man natürlich nicht verstecken, dass man beschnitten ist. Aber niemand sagte etwas deswegen. Ich arbeitete all die Jahre, ich machte eben weiter. Ich habe Gott nie angeschrien, ich habe mich nie bei ihm beklagt. Ich habe ihn nur ignoriert. Wie ich alles ignoriert habe. Die Religion, diesen Teil von mir habe ich einfach weggeschlossen. Aber jetzt …«
    Mein Tee war kalt. Die Kekse blieben unberührt.
    »Aber jetzt?«, fragte ich, um die Stille zu füllen.
    »Jetzt möchte ich meine Bar Mizwa machen. Ordentlich. Ich habe das nie nachgeholt, aber jetzt ist es Zeit dafür. Deshalb habe ich in der schul angerufen, Rabbi. Können Sie mir eine Bar Mizwa organisieren?«
    Ich zog meinen Kalender heraus.
    »Am schabbes socher«, sagte er. Er hatte natürlich die aschkenasische polnische Aussprache. Ich war beeindruckt,

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