Auf das Leben
dass er sich überhaupt an so vieles erinnerte.
Ich blätterte die Seiten durch. Es waren noch sechs Wochen bis zum Schabbat Sochor, und das Wochenende war frei - keine andere Bar Mizwa, kein Aufruf zur Tora. »Kein Problem«, sagte ich. »Das passt wunderbar.«
Mr Piotrwicz lehnte sich zurück und atmete tief. Jetzt konnte ich erkennen, was für eine Strapaze es für ihn gewesen sein musste, diese schreckliche Geschichte zu erzählen.
»Gut, gehen wir’s an«, sagte er. »Es ist schon eine Weile her, dass ich mit dem Rabbiner gelernt habe, aber es ist noch alles da. Was brauchen Sie sonst noch von mir?«
»Für den Anfang Ihren hebräischen Namen.« Ich holte meinen Kugelschreiber heraus und markierte das Datum.
»Mendel ben Josef Lejb«, sagte er. »Ich habe allerdings keinen tallis mehr.«
»Kein Problem, wir haben welche in Reserve. Wie werden Sie zur schul kommen?«
»Das werde ich schon schaffen. Ich werde pünktlich sein. Und was den Kiddusch betrifft - könnte die schul einen Imbiss für die Gemeinde vorbereiten? Ich werde ihn natürlich bezahlen. Ich habe ein paar Ersparnisse, und schließlich bin ich derjenige, der einlädt.«
»Wunderbar«, sagte ich.
Dann wurde der alte Mann plötzlich kurz angebunden und sachlich. »Sie fangen um halb elf an, nicht wahr? Nun, ich werde rechtzeitig da sein. Am schabbes sochor. Und ich habe noch eine Bitte. Ich will ein paar Leute einladen. Könnten Sie die ersten beiden Reihen freihalten? Und einen Tisch beim Kiddusch.«
»Kein Problem«, sagte ich und notierte alles.
»Und sagen Sie bitte niemandem, was ich Ihnen erzählt habe. Am besten sagen Sie einfach gar nichts, in Ordnung?«
»In Ordnung«, versprach ich.
Als ich wieder in der schul war, musste ich nur ein paar Anrufe tätigen, mehr nicht. Der alte Mr Piotrwicz wolle als Bar Mizwa aufgerufen werden, endlich, ließ ich verlauten er habe das als Kind verpasst. Der Krieg, Sie wissen schon. Das reichte. Es gab genügend Mitglieder mit verborgenen Geschichten und verlorener Kindheit.
Die Wochen gingen vorbei. Dann kam der große Tag. Ein Teil von mir glaubte nicht, dass er tatsächlich kommen würde. Andererseits hatte ich ihn aber am Mittwochabend noch angerufen, und er hatte mir versichert zu kommen, er fühle sich wohl, hatte er gesagt, und er freue sich. Die Gemeinde hatte daraufhin einen Standardkiddusch mit etwas mehr Kuchen zusammengestellt, da zusätzliche Gäste erwartet wurden. Wir waren also vorbereitet.
Mr Piotrwicz kam tatsächlich. Als ich an diesem Morgen das Auto geparkt hatte, stand er bereits an der Tür. In einem grauen Anzug, einem leichten Mantel, auf einen Stock gestützt. Er schüttelte mir die Hand mit einer - wie ich fand - erstaunlichen Festigkeit.
»Ich bin bereit«, sagte er.
Ich entgegnete, dass meiner Erfahrung nach nicht viele Bar Mizwas so selbstsicher seien.
Er schaute mir in die Augen und lächelte. »Nehmen Sie es nicht persönlich, aber ich habe mich damals mit unserem Rabbiner vorbereitet«, sagte er.
Es war voll, wie üblich an den Samstagen, aber ich schaute mich vergeblich nach speziellen Gästen um. Der Schammes hatte in den ersten beiden Reihen Schilder mit der Aufschrift »reserviert« verteilt, aber sie blieben leer. Ich hatte nicht daran gedacht, Mr Piotrwicz zu fragen, wen er genau einladen wolle, ich hatte angenommen, es handle sich um Leute aus seinem Dorf. Aber das machte nichts, der alte Mr Piotrwicz schien sich wohlzufühlen, er hatte schon am Gang in der ersten Reihe Platz genommen. Er saß steif und aufrecht, einen Siddur in der Hand, einen unserer Reserve-Gebetsmäntel über den Schultern, auf dem Kopf eine geborgte Kippa aus dem Korb.
Ich war on schpilkes, auf Nadeln, wie meine Mutter es immer nannte: angespannt. Der Gottesdienst ging weiter. Wir holten die beiden Rollen heraus, gingen herum, Mr Baker fungierte als Schammes, alles war wie immer. Ich las die Sidra, wir riefen auf - ich erinnere mich nicht mehr genau, es war alles ein wenig durcheinander -, und dann kam die zweite Rolle. Ich hatte sie am Tag zuvor auf das Fünfte Buch Mose, Kapitel 25 gestellt, das ist der spezielle Abschnitt, der am Schabbat vor Purim gelesen wird.
Und dann rief ich aus: »Ja’amod ha-Bar Mizwa Mendel ben Josef Lejb! Möge sich der Bar Mizwa jetzt erheben und zur Tora kommen!« Unter den Gottesdienstbesuchern, die regelmäßig kamen, entstand eine gewisse Aufregung. Der alte Mr Piotrwicz erhob sich, auf seinen Stock gestützt, schien sich zu dem leeren
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