Auf das Leben
Sitz neben sich zu beugen und stieg langsam die drei Stufen der Bima hinauf. Er stand neben mir, stark, entschlossen - tief versunken in diesen Augenblick. Er berührte die Rolle mit seinem Tallit, küsste ihn, sprach die Brachot mit seinem starken polnischen Akzent, dann beugte er sich vor, nahm die Jad, mit der ich auf die richtige Textstelle deutete, aus meiner Hand und begann laut und klar zu lesen: »S’chor es-oscher assa lecho Ommojlek... 2 « Es war nur ein kurzer Abschnitt, drei Verse, aber sie enthalten den Auftrag, dass wir uns erinnern sollen, was uns unsere Feinde in der Vergangenheit angetan haben, und dass wir es nie vergessen dürfen. Es sind drei kraftvolle Verse; deshalb lesen wir sie vor dem großen Purimfest, der Erinnerung an eine Zeit, als wir - wenigstens damals - triumphierten.
Mr Piotrwicz war zum Ende gekommen. Er küsste die Rolle, schloss die Augen und murmelte den letzten Segen. Dann richtete er sich an die erste leere Reihe. »Gut, Papa, gut, Mama? Seid ihr stolz auf mich?«, sagte er. Und dann drehte er sich nach rechts, weg von mir. »Sehen Sie, Rabbi, ich habe es nicht vergessen.« Und er beugte den Kopf, als wolle er einen Segen empfangen. Ich stand da wie festgenagelt. Ich hatte vorgehabt, ein »Mi scheberach« zu sagen, einen Segen, dann den Bar Mizwa-Segen, aber Mr Piotrwicz ging einfach die Bima hinunter, mit seinem Stock, und setzte sich auf seinen Platz. Unter seine Leute.
Ich beendete den Gottesdienst, erinnere mich aber nicht mehr, wie. Ich las die Haftara, sprach die Segen, leitete die Prozession, schloss die Lade, sang das Alejnu, kündete die Purimgottesdienste an, erledigte alles wie mit dem Autopilot. Der alte Bar Mizwa erhob sich wie die anderen für das Kaddisch. Er sagte einige Male sehr laut »omejn«.
Beim Kiddusch pries ich den alten Mr Piotrwicz - ich verwendete seinen hebräischen Namen - dafür, dass er vor den Augen der Gemeinde Bar Mizwa geworden war. Er strahlte, wollte aber nichts sagen. Doch als ich mit den Segenssprüchen zu Ende war, nahm er seinen mit Kuchen beladenen Teller und setzte sich an den reservierten Tisch. Und keiner, keiner ging hin und störte ihn. Wir drängten uns alle um das Büfett. Wir unterhielten uns ein bisschen, machten höflich Konversation.
Als der Schammes begann, die Tassen zusammenzustellen, und sich die Stimmung änderte, ging ich hinüber, um ihm noch einmal masel tow zu sagen, und fragte ihn, wie er heimkommen würde. »Kein Problem, Rabbi, ich habe mir für ein Uhr ein Taxi bestellt«, sagte er. »Ich komme schon nach Hause.« Es war fünf vor eins, ich ging zur Tür, und tatsächlich wartete draußen ein Wagen. Mr Piotrwicz nahm seine Sachen, den Stock und den Mantel, schüttelte mir die Hand, bedankte sich für einen großartigen Tag und ging hinaus.
Zwei Tage später kam der Anruf. Am Montag. Der alte Mr Piotrwicz war gestorben. Nein, er war heimgegangen.
Und ich musste denken: Zumindest weiß ich jetzt seinen hebräischen Namen.
II
Sterben
Caprice
Es war offensichtlich ein schlechter Tag. Ich kam gerade vom Friedhof - die alte Mrs Ginsberg war beerdigt worden -, da fand ich eine Notiz meiner Sekretärin mit der dringenden Bitte um Rückruf. Sie weiß, dass ich normalerweise gern eine Stunde für mich habe, um mich von einer Beerdigung zu erholen, deshalb war mir sofort klar, dass es sich um etwas Dringendes handeln musste. So war es auch. Im St.-Elizabeth-Hospital liege auf der Kinderstation ein Junge im Koma, mit Meningitis. Der neunjährige Benjamin, erfuhr ich. Ich kannte den Jungen kaum, er war nicht mehr als ein Name aus dem Register der Religionsschule. Ich konnte kein Gesicht mit dem Namen verbinden, auch nicht die Gesichter der Eltern. Und doch saß ich fünf Minuten später, nachdem ich mir wenigstens den Schlamm von den Schuhen gewischt hatte, im Auto, auf dem Weg zum Krankenhaus. Parken ist dort immer schwierig, obwohl ich theoretisch den Angestelltenparkplatz benutzen könnte. Doch schließlich fand ich den Weg zur Station 28 im Hillside-Block. Dort war ich noch nie gewesen. Wie auf allen Kinderstationen auf der ganzen Welt haben die Angestellten dort etwas ganz Besonderes an sich - vor allem die Oberschwestern, die schon alles gesehen haben. Die Nummer 28 war die Intensivstation des Kinderkrankenhauses. Ich drückte auf die Klingel, reichte der Krankenschwester, die mir öffnete, meine Visitenkarte und durfte eintreten.
Der kleine Benjamin lag in einem der Räume zur
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