Auf dem Holzweg durchs Universum: Warum sich die Physik verlaufen hat (German Edition)
stellt, liegt wieder an der Betulichkeit der Physiker, lieber etliche Ornamente an eine Theoriefassade anzukleben, um eine ‚Vereinigung‘ zu erreichen, als die Fundamente des Gebäudes in Frage zu stellen. Einen Fortschritt im Verständnis wird es aber auch hier nur geben, wenn man die Maxwellsche Theorie abändert – vielleicht hatte Lord Kelvin ja nicht so unrecht, der bis an sein Lebensende 1907 das Fehlen von mechanischen Begriffen darin bemängelte. Stattdessen gesellten sich um 1930 zu den zwei Grundkräften Elektrodynamik und Gravitation die schwache und die starke Kraft hinzu, wobei sich die Erkenntnis weitgehend in den neuen Worten erschöpfte.
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Die Natur hat es an sich, kluge Möglichkeiten zu erdenken, die uns nicht in den Sinn kommen, wir ignorieren ihren Scharfsinn auf eigene Gefahr. 264 – Anthony Leggett
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Patrick Blackett, Nobelpreisträger von 1948, aber auch Pioniere der Quantentheorie wie Wolfgang Pauli und Pascual Jordan 265 haben stattdessen darüber nachgedacht, die relativ lange Zeitskala – daher schwache Kraft – des Betazerfalls von Neutronen mit den Diracschen großen Zahlen in Verbindung zu bringen. Dies ist durchaus keine abwegige Idee, inzwischen wurde sie jedoch durch das Dogma ersetzt, man könne diese Zahlenwerte nicht erklären. Angesichts der ungeklärten Probleme beim Betazerfall und in der Kernphysik, die zu dem ausufernden Standardmodell geführt haben, kann man diese nun vier Wechselwirkungen nur als zementiertes Unverständnis auffassen.
Trotzdem wird im Gruppendenken der Teilchenphysiker die Gravitation in einer ‚demokratischen‘ Drei-zu-eins-Abstimmung ignoriert, sie sei ja schließlich auch so klein. Ich übertreibe hier nicht, solche schizophrenen Argumente kann man in Lehrbüchern der Quantenfeldtheorie lesen. 266 Richtig ist das Gegenteil, die Gravitation ist etwas Besonderes: Als einzige Kraft hängt sie von der Masse ab, ein Begriff, den man auch ohne Gravitation durch die Trägheit von Körpern definieren kann. Es ist wieder einmal die Masse, der vielleicht elementarste Begriff der Materie, Grundlage jeder Messung und damit Fundament der wissenschaftlichen Methode, die das Standardmodell blamiert, das hier zu Vorhersagen und Erklärungen unfähig ist. Auch wenn die Theoretiker das noch so sehr verdrängen, man muss es ihnen unter die Nase halten.
NOCH MEHR ZAHLEN, DIE WIR NICHT VERSTEHEN
Dirac war derjenige, der das Prinzip der Einfachheit der Naturgesetze am konsequentesten verfolgte. Er hoffte damals auch, das enorme Massenverhältnis von Proton und Elektron, m p /m e = 1836,15 …, theoretisch zu erklären, was ihm trotz intensiver Bemühung nicht gelang. So bleibt auch diese Zahl – neben den Zahlen 10 39 und– bis heute eines der größten Rätsel der Physik, das uns den Misserfolg, reine Zahlen herzuleiten, vor Augen führt.
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Der gesunde Gelehrte, der Mann, bei dem Nachdenken keine Krankheit ist. – Georg Christoph Lichtenberg
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Beim Massenverhältnis Proton/Elektron scheint die Situation noch verfahrener, da auch eine Interpretation als Logarithmus weit außerhalb eines sinnvollen Bereiches führen würde. Können die Zahlen 1836,15 … und 137,03 … irgendwie zusammenhängen? Dirac hat sich das sicher gefragt, aber von seinen Überlegungen ist nichts überliefert; wahrscheinlich hielt er sie nicht für ausgereift und gestattete sich keinen Kommentar. Weiter könnte man hier das Massenverhältnis von Neutron zu Elektron, m n /m e = 1838,68 …, nennen und etliche andere Zahlen von Myonen oder Pionen, zu denen wir theoretisch auch nichts zu sagen haben. Alle instabilen Teilchen werfen zusätzlich die Frage auf, wie ihre mittlere Lebensdauer oder auch Halbwertszeit zu berechnen ist. Wir haben keine Antwort.
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Es wollten immer schon mehr Leute sprechen als zuhören. – Paul Dirac
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Hätte sich Dirac für die Eigenschaften dieser neu entdeckten Teilchen interessiert? Höchstwahrscheinlich nur am Rande. Er sah keinen Sinn darin, sich mit der Physik weiterer Teilchen zu beschäftigen, bevor die Theorie des Elektrons nicht gut verstanden war. 267 Wenn Sie so eine Arbeitshaltung einem Theoretiker am CERN vorschlagen, würde sich dieser entweder aufregen oder, wahrscheinlicher und sich dabei selbst disqualifizierend, darüber lachen. Aber Dirac hatte recht. Das auf Unverständnis errichtete Gebäude hat durch seine Kompliziertheit längst das brüchige Fundament offenbart. Es ist nur nicht zum Lachen.
PHYSIK AUF
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