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Auf dem Jakobsweg

Auf dem Jakobsweg

Titel: Auf dem Jakobsweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Coelho
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heute tätig.
Diese Geschichte schoß mir durch den Kopf, als ich diesen Wasserfall anschaute, der unmöglich erklommen werden konnte. Ich dachte an die lange Zeit, die Petrus und ich zusammen gewandert waren, ich erinnerte mich an den Hund, der mich angegriffen und dem ich nichts getan hatte, an Petrus' Aufbrausen im Restaurant wegen des jungen Mannes, der uns bedient hatte, an seine Trunkenheit während der Hochzeitsfeier. Nur daran konnte ich mich erinnern.
»Petrus, ich werde diesen Wasserfall auf gar keinen Fall hinaufklettern. Aus einem einzigen Grunde: Es ist unmöglich.« Statt zu antworten, setzte er sich schweigend ins Gras. Ich setzte mich neben ihn. Wir schwiegen eine geschlagene Viertelstunde. Sein Schweigen verwirrte mich, und ich ergriff als erster das Wort.
»Petrus, ich will diesen Wasserfall nicht hinaufklettern, weil ich fallen könnte. Ich weiß, daß ich nicht sterben werde, denn als ich das Antlitz meines Todes sah, sah ich auch den Tag, an dem er kommen wird. Doch ich könnte für den Rest meines Lebens zum Krüppel werden.«
»Paulo, Paulo...«, rügte er lächelnd. Er hatte sich vollkommen verändert. In seiner Stimme war etwas von dieser alles verschlingenden Liebe, und seine Augen leuchteten. »Du wirst sicher gleich sagen, daß ich mein Gehorsamsgelübde breche, das ich abgegeben habe, bevor ich den Weg antrat.« »Nein, nein, du brichst das Gelübde nicht. Du hast keine Angst und bist auch nicht faul. Zudem wirst du nicht gedacht haben, daß ich einen unnützen Befehl gebe. Du willst nicht hinaufklettern, weil du an die >Schwarzen Meister< denkst. Von deiner Entscheidungsfreiheit Gebrauch machen bedeutet nicht, ein Gelübde zu brechen. Diese Freiheit wird einem Pilger niemals versagt.«
Ich blickte auf den Wasserfall und dann wieder zu Petrus. Ich schätzte die Möglichkeiten eines Aufstiegs ab und sah keine. »Hör gut zu«, sagte er. »Ich werde vor dir hinaufklettern, ohne irgendeine Gabe zu benutzen. Und ich werde es schaffen. Wenn ich es schaffe, dann nur, weil ich weiß, wohin ich die Füße setzen muß. Du mußt es genauso machen. Auf diese Art hebe ich deine Entscheidungsfreiheit auf. Erst wenn du dich weigerst, nachdem du mich hast hinaufklettern sehen, brichst du dein Gelübde.«
Petrus begann seine Turnschuhe auszuziehen. Er war mindestens zehn Jahre älter als ich, und wenn er es schaffte, hatte ich ihm nichts mehr entgegenzusetzen. Ich schaute den Wasserfall an, und mir wurde ganz mulmig.
Doch Petrus rührte sich nicht von der Stelle. Barfuß saß er da, schaute in den Himmel und sagte:
»Einige Kilometer von hier entfernt ist im Jahre 1502 einem Hirten die Jungfrau Maria erschienen. Heute ist ihr Fest, das Fest der Heiligen Jungfrau des Weges, und ihr widme ich meinen Sieg. Ich rate dir, dasselbe zu tun. Schenk ihr nicht den Schmerz, den du in den Füßen spürst, und auch nicht die Wunden, die dir die Steine an den Händen zufügen werden. Alle bieten immer nur den Schm erz ihrer Buße dar. Dann ist nichts Verwerfliches, doch ich glaube, daß es sie glücklich macht, wenn die Menschen ihr auch ihre Freude darbieten.« Ich hatte keine Lust zu reden. Ich zweifelte noch immer daran, daß Petrus es schaffen würde, die Wand hinaufzuklettern. Ich hielt das alles für eine Farce und glaubte, daß er mich im Grunde nur zu etwas überreden wollte, was mir widerstrebte. Für alle Fälle schloß ich dennoch die Augen und betete zur Jungfrau des Weges. Ich versprach ihr, daß ich, wenn Petrus und ich es schaffen würden, die Wand hinaufzuklettern, eines Tages an diesen Ort zurückkehren würde.
»Alles, was du bis heute gelernt hast, hat nur einen Sinn, wenn es auf etwas angewandt wird. Erinnere dich daran, daß ich dir gesagt habe, der Jakobsweg sei der Weg der gewöhnlichen Menschen. Tausendmal habe ich das gesagt. Auf dem Jakobsweg und im Leben ist Weisheit nur dann etwas wert, wenn sie dem Menschen hilft, Hindernisse zu überwinden. Ein Hammer wäre ein sinnloser Gegenstand, gäbe es nicht Nägel, die er einschlagen kann. Und selbst wenn es Nägel gibt, die er einschlagen kann, hätte der Hammer keine Aufgabe, wenn ich nur denken würde: >Diese Nägel kann ich mit zwei Schlägen einschlagen.< Der Hammer muß agieren, sich der Hand des Besitzers anvertrauen und seiner Aufgabe gemäß benutzt werden.«
Mir fielen die Worte des Meisters in Itatiaia wieder ein: »Wer ein Schwert besitzt, muß es ständig auf die Probe stellen, damit es nicht in der Scheide verrostet.«
»Der

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