Auf dem Jakobsweg
Wasserfall ist der Ort, an dem du alles, was du bislang gelernt hast, in die Praxis umsetzen wirst«, sagte mein Führer. »Einen Vorteil hast du bereits: Du kennst das Datum deines Todes, und die Angst wird dich nicht lahmen, wenn du schnell entscheiden mußt, wo du dich abstützen sollst. Doch vergiß nicht, daß du mit dem Wasser arbeiten und es für deine Zwecke nutzen mußt. Und vergiß auch nicht, deinen Fingernagel ins Nagelbett des Daumens zu graben, wenn ein böser Gedanke dich beherrscht. Vor allem mußt du dich die ganze Zeit auf die alles verschlingende Liebe stützen, weil sie dich führt und all deine Schritte rechtfertigt.«
Petrus unterbrach sich, zog sein Hemd und die Bermudas aus. Vollkommen nackt stieg er in das kalte Wasser der kleinen Lagune, tauchte ganz ein und streckte die ausgebreiteten Arme zum Himmel. Ich sah, daß er glücklich war und das kühle Wasser und den Regenbogen genoß, den die Wassertropfen um uns herum bildeten.
»Da ist noch etwas«, sagte er, bevor er durch den Schleier des Wasserfalles ging. »Dieser Wasserfall wird dich lehren, ein Meister zu sein. Ich werde hinaufsteigen, doch zwischen dir und mir wird immer ein Wasserschleier liegen. Ich werde hinaufsteigen, ohne daß du sehen kannst, wohin ich meine Füße setze und wohin meine Händen greifen.
Auch ein Schüler wird niemals die Schritte seines Meisters nachahmen können. Denn jeder hat seine eigene Art zu leben, mit den Schwierigkeiten und mit den Erfolgen fertig zu werden. Lehren heißt zeigen, daß etwas möglich ist. Lernen heißt, seine eigenen Möglichkeiten ausloten.«
Mehr sagte er nicht. Er trat hinter den Schleier des Wasserfalls und begann hinaufzuklettern. Ich sah seine Gestalt nur wie durch Milchglas. Langsam und stetig stieg er hinauf. Je näher er dem Ziel kam, desto mehr fürchtete ich mich, denn nun war bald ich dran. Schließlich kam der schwierigste Moment: das herunterstürzende Wasser zu durchqueren. Eigentlich hätte ihn die Wucht des Wassers niederwerfen müssen. Doch Petrus' Kopf tauchte auf, und das Wasser wurde zu seinem silbrigen Mantel. Dann hievte er sich mit einer einzigen Bewegung empor, und ich verlor ihn sekundenlang aus den Augen. Dann erschien Petrus endlich an einem der Ufer. Sein Körper war naß, glitzerte in der Sonne. Er lächelte.
»Los!« rief er, indem er mir zuwinkte. »Jetzt bist du an der Reihe.«
Jetzt war ich an der Reihe. Oder ich mußte meinem Schwert auf immer entsagen.
Ich zog mich ganz aus und betete wieder zur Heiligen Jungfrau des Weges. Dann machte ich einen Kopfsprung ins Wasser. Es war eiskalt, und mein Körper wurde beim Eintauchen ganz steif. Doch dann spürte ich das wunderbare Gefühl, am Leben zu sein. Ich watete auf den Wasserfall zu.
Das Wasser, das auf meinen Kopf niederrauschte, gab mir wieder den absurden »Realitätssinn« zurück, der den Menschen dann schwächt, wenn er seinen Glauben und seine Kraft am meisten braucht. Ich begriff, daß der Wasserfall stärker war, als ich gedacht hatte, und wenn er sich direkt auf meine Brust ergoß, würde er mich umwerfen, auch wenn ich mit beiden Füßen fest im See stand. Ich bahnte mir einen Weg durch das Wasser und stand dann zwischen dem Wasservorhang und dem Stein in einem kleinen Zwischenraum, in den ich, wenn ich mich eng an den Fels preßte, gerade mit meinem Körper paßte. Und da sah ich, daß die Aufgabe leichter war, als ich gedacht hatte.
Das, was ich anfangs für eine glatte Wand gehalten hatte, war in Wahrheit ein Fels mit vielen Einbuchtungen. Mir wurde bei dem Gedanken ganz schwindelig, daß ich aus Angst vor einem glatten Stein beinahe auf mein Schwert verzichtet hatte, der in Wahrheit ein Felsen war, einer von der Art, die ich schon zig Male erklommen hatte. Mir war, als hörte ich Petrus sagen: »Siehst du? Hat man erst ein Problem gelöst, wirkt es umwerfend einfach.«
Ich begann, das Gesicht dicht am Gestein, den feuchten Fels hinaufzuklettern. In zehn Minuten hatte ich die Wand fast ganz erklommen. Doch der Sieg, den ich mit dem Aufstieg errungen hatte, nützte mir nichts, wenn es mir nicht gelang, die kurze Strecke durch den Wasserfall hindurch zu überwinden, die mich vom freien Himmel trennte. Dort lag die Gefahr, und es war eine Gefahr, die Petrus, ich weiß nicht wie, gemeistert hatte. Ich betete noch einmal zur Heiligen Jungfrau des Weges, zu einer Jungfrau, von der ich nie zuvor gehört hatte und in die ich dennoch in diesem Augenblick meinen ganzen Glauben, meine ganze Hoffnung auf
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