Auf dem langen Heimweg: Roman (German Edition)
Moment lang weg, schluckte und sah Jazzy dann wieder an. »Ich meine, sie
war
dreiundzwanzig.« Jetzt liefen ihr Tränen die Wangen hinunter. »Sie ist gestorben. Vor zehn Jahren. Sie wurde ermordet. Wir sind uns sicher, dass es ihr damaliger Freund war, aber die Polizei kann es nicht beweisen.«
Jazzy stand so hastig auf, dass das Handy von ihrem Schoß rutschte und klappernd auf den Boden fiel. »Das tut mir leid«, sagte sie und öffnete die Arme. Rita ließ sich an sie ziehen und hielt sie selbst fest umschlungen. »Na, na«, sagte Jazzy, als tröstete sie ein Kind. Marnie, die schon den Autoschlüssel in der Hand hielt, erstarrte beim Anblick dieser Frau, die Trost in der Umarmung einer Wildfremden fand.
»Das Schlimme ist, dass sie mir immer noch so schrecklich fehlt«, schluchzte Rita.
»Aber natürlich«, sagte Jazzy. Sie streichelte den Hinterkopf der älteren Frau. »Das ist doch ganz natürlich.« Für Marnie verschwamm der Rest des Raums und das einzig Reale auf der Welt waren diese beiden Frauen, die einander umarmt hielten.
2
Jazzy hatte nicht vorgehabt, an diesem Dienstagabend zur Trauergruppe zu gehen. Zum Teufel, sie wusste nicht einmal, dass es so etwas gab. Geplant hatte sie einen ruhigen Abend allein zu Hause. Sie hatte es sich gerade mit einer Dose in Honig gerösteter Erdnüsse und einem Glas Wein auf dem Sofa bequem gemacht, als sie plötzlich eine Stimme im Kopf hatte.
Du solltest heute Abend wirklich ausgehen.
Sie hörte es ganz sanft und leise, als wäre es einfach nur ein Vorschlag. Ha! Schön wär’s!
Die Stimme zu übergehen war keine Option, so viel wusste sie. Wenn sie früher solche Stimmen gehört hatte, hatte sie manchmal versucht, sie einfach zu ignorieren, aber das hatte nie funktioniert. Normalerweise ließen sie nicht locker und schließlich beschlich sie ein unangenehmes, nagendes Gefühl, als hätte sie vergessen, etwas Wichtiges zu erledigen. Und dann wurde es einfach nur immer schlimmer und den Rest der Nacht würde sie durch die Wohnung tigern, getrieben von einer schlimmen, aber nicht recht fassbaren Angst. So was war der totale Wahnsinn. Da war es besser, einfach nachzugeben.
Sie rief ihren Bruder Dylan bei der Arbeit an und gab ihm Bescheid, dass sie ausging und er sie wahrscheinlich späterwürde abholen müssen. Sie konnte ihm nicht wirklich sagen, wohin sie unterwegs war. Er verstand es jedoch. So lief das schon seit ihrer Kindheit. Ihre Großmutter hatte dasselbe Phänomen gekannt – plötzlich hatte sie Stimmen im Kopf, als erhielte sie einen Anruf aus dem Universum, und dann ließ sie einfach alles stehen und liegen und tat, was erforderlich war. »Sie führen dich, Jazzy«, hatte Grandma immer wieder gesagt. »Diese Stimmen, es gibt einen Grund dafür, dass du sie hörst.« Außerdem hatte sie erklärt, dass jeder Mensch auf der Welt im Prinzip diese Fähigkeit besaß, dass aber nur die wenigsten die Stimmen wirklich vernahmen. Wenn Jazzy täte, was die Stimmen verlangten, würden wunderbare Dinge geschehen. Wenn sie sie dagegen ignorierte, würde sie niemals erfahren, was sich hätte ereignen können.
Was Grandma ihr damals nicht erzählt hatte, war, dass sie beide Tote hörten. Das hätte jede Zehnjährige das Gruseln gelehrt. Als Jazzy so weit war, es zu verstehen, war sie daran gewöhnt, dass Geister in ihre Gedanken eindrangen. Es war ein bisschen verrückt, aber so war sie eben. Jeder hatte doch irgendeine Schrulle.
Und jetzt war witzigerweise Grandma ihre häufigste Besucherin aus dem Jenseits, was Jazzy sehr tröstlich fand. Genau wie zu ihren Lebzeiten strahlte Grandma reine Freude aus und ihre Ratschläge hatten den Sinn, Jazzy zum Nachdenken zu bewegen.
Heute Nacht war allerdings jemand anders bei ihr. Nachdem Jazzy Dylan informiert hatte, dass sie ausgehen würde, stellte sie gerade ihr noch schnell geleertes Weinglas in die Spüle, als sie die unbekannte Stimme erneut hörte.
Du solltest heute Abend wirklich ausgehen.
Da drängelte aber jemand. Hallo?Sie hatte doch noch gar keine Zeit gehabt, das Haus zu verlassen. Was für eine Ungeduld. »Vielleicht sollte ich
wirklich
ausgehen«, testete sie die Worte aus. Sie hatte plötzlich das Gefühl, eine Bestätigung zu bekommen, als sagte jemand:
Ja, jetzt hast du es kapiert.
Sie spürte, dass es sich um einen weiblichen Geist handelte. Jung, vielleicht in ihrem Alter – zweiundzwanzig. Wie traurig, wenn jemand starb, bevor er wirklich gelebt hatte. Aber vielleicht konnte sie, Jazzy, ja
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