Auf dem langen Heimweg: Roman (German Edition)
eilte die Treppe hinauf. Im ersten Stock angelangt, ging sie zielgerichtet durch den Korridor, bis sie zu einer geschlossenen Tür kam. Durch ein schmales Fenster in der Tür erblickte sie eine Gruppe von Frauen, die im Kreis auf Metallklappstühlen saßen. Sie hörte eine Frauenstimme, konnte aber keine Worte verstehen.
Jazzy holte tief Luft, machte die Tür auf und stürmte hinein. »Es tut mir wirklich leid«, sagte sie. »Der Verkehr war furchtbar und dann habe ich das Zimmer nicht gefunden ...«
3
Marnie stellte den Rückspiegel ein, ließ den Motor aber noch nicht an. Jetzt, da der Kurs vorbei war, hatte sie es nicht eilig. Sie musste nirgendwo hin und zu Hause erwartete sie auch niemand. Es war eigentlich egal, wo sie war.
In letzter Zeit hatte sie das Gefühl gehabt festzustecken. Sie war nicht so deprimiert gewesen wie zuvor, aber auch nicht sonderlich motiviert. Als wartete sie darauf, dass irgendetwas geschah, auch wenn sie gar nicht wusste was. Bisher hatte es sich jedenfalls noch nicht ereignet.
Der beste Teil des Lebens lag jetzt hinter ihr. Sie war fünfunddreißig und es war klar, dass sie niemals eine Olympionikin oder Bergsteigerin oder ein Rockstar werden würde. Für all das war es inzwischen zu spät. So viele Türen hatten sich geschlossen. Als sie noch jung war, hatte ein unendliches Meer an Möglichkeiten vor ihr gelegen, aber so hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt. Noch vor zwei Monaten hatte sie ein Haus, eine Familie und einen Beruf. Jetzt war all das weg. Oder zumindest das meiste davon. Der Beruf war immer noch irgendwo im Hintergrund. Sie war Lehrerin und hatte sich nach Brians Tod beurlauben lassen. Im September würde sie ihre Arbeit in der Lincoln Elementarywieder aufnehmen, aber das schien ihr nur ein kleiner Trost.
Marnie betrachtete sich im Rückspiegel und runzelte die Stirn. Da hockte eine ungepflegte Frau mittleren Alters. Schulterlanges braunes Haar und Brille. Sie hatte immer noch dasselbe Gewicht wie in ihrer Collegezeit, aber ihre Muskeln waren erschlafft. Wahrscheinlich sollte sie allmählich etwas für ihre Fitness tun. Ja, sie sollte wirklich Mitglied in einem Fitnesscenter werden oder einen Yogakurs machen oder so. Vielleicht morgen.
Sie trommelte mit den Fingerspitzen aufs Lenkrad und sah den anderen Frauen aus dem Kurs dabei zu, wie sie zu ihren Autos gingen. Sie winkten sich zu und riefen: »Also, bis nächste Woche!« Marnie hatte die Gruppe gemocht, aber zu keiner der Frauen oder Geschichten eine besondere Verbindung gespürt. Auch wenn die anderen ebenfalls unter dem Verlust eines geliebten Menschen litten – mit ihrer eigenen Situation blieb sie trotzdem allein.
Die Frau mit dem glänzenden Silberhaar ging vorbei und Marnie konnte ihr Gesicht deutlich erkennen. Noch vor wenigen Minuten hatte sie geweint, aber jetzt war ihr Schritt lebhaft, und ihr Gesicht war zwar verquollen, aber heiter. Von Jazzy war nichts zu sehen. Marnie hatte gehofft, dass sie noch einmal auftauchen würde, aber sie war nicht mit den anderen herausgekommen.
Die Umarmung der beiden Frauen hatte Marnie mit einem ganz merkwürdigen Gefühl erfüllt. Sie konnte Jazzy noch immer mit ausgebreiteten Armen vor sich sehen. Und sie erinnerte sich, wie die andere Frau, Rita, die Jazzy überhaupt nicht kannte, in ihre Umarmung gesunken war, als wäre es die natürlichsteSache der Welt. Eigentlich eine peinliche Situation, aber es war alles andere als das gewesen. Wie war das möglich?
Jazzy passte nicht zur Gruppe. Sie schien noch nicht einmal zu verstehen, worum es in dem Kurs ging, und doch hatte sie allen geholfen, das hatte Marnie gemerkt. Allein schon ihre Anwesenheit hatte die Leute aufgemuntert. Sie wünschte, Debbie, die Kursleiterin, hätte sie am Ende nicht unterbrochen. Marnie hätte gerne mehr gehört. Sie vermutete, dass Jazzy etwas verkaufte oder als Lebensberaterin arbeitete und Klienten suchte. Eine Trauergruppe wäre der perfekte Ort, um Unglückliche zu finden, die bereit waren, für das Versprechen eines besseren Lebens ordentlich zu blechen. In letzter Zeit sah Marnie die Menschen eher kritisch.
Allmählich leerte sich der Parkplatz. Der Himmel war grau und der Wind legte zu. Nach einem langen, harten Winter war das Frühjahr verregnet gewesen und selbst jetzt, zu Beginn des Sommers, sah es nicht viel besser aus. Das war wirklich typisch für Wisconsin. Man bekam nie, was man wollte. An heißen Tagen sehnte Marnie sich nach einem kühlen Lüftchen; wenn es
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