Auf dem langen Heimweg: Roman (German Edition)
Regen aufhörte. Sie würde sich
nicht
vom kalten Regen durchweichen lassen und mit tropfnassem Haar und am Körper klebenden Kleidern draußen herumlaufen. Wenn es ewig regnete, würde sie genauso lange im Wagen sitzenbleiben und wie jeder gute Märtyrer weder auf Hunger, Durst noch das Bedürfnis, zur Toilette zu gehen, achten. Die Polizei würde ihr Skelett im Wagen finden und jeder würde sagen:
Weißt du, ich hatte mich schon gefragt, wo Marnie eigentlich steckt, aber ich war so damit beschäftigt, mich um mich selbst zu kümmern, dass ich einfach nicht nach ihr schauen konnte. Jetzt fühle ich mich wirklich schrecklich.
Und das hätten sie dann auch verdient, sie alle. Es würde ihnen recht geschehen.
Es fühlte sich gut an, sich in Selbstmitleid zu suhlen. Das Lenkrad grub sich in ihre Stirn, aber das war ein notwendiger Teil des Leidens, und so ertrug sie es.
Wenn sie noch ein bisschen so weitermachte, würde sie gleich losheulen, doch plötzlich klopfte es ans Fenster und sie fuhr hoch. Die Sicht durch die Scheibe war vom Regen getrübt, aber Marnie erkannte sofort das Mädchen, das mit Verspätung in den Kurs gestürmt war.
Jazzy klopfte erneut und rief dann: »Hallo?« Sie kam noch näher. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«
Ihr ganzes Leben war Marnie noch nie so glücklich gewesen, jemanden zu sehen. Sie machte die Tür einen Spalt weit auf. »Gott sei Dank sind Sie hier«, sagte sie durch die schmale Öffnung. Dann sah sie, dass Jazzy eine Art Metallstab umklammerthielt. Beim zweiten Blick begriff sie, dass es der Griff eines großen roten Regenschirms war.
»Alles in Ordnung mit Ihnen? Sie sahen so aus, als wären Sie über dem Lenkrad zusammengebrochen ...«
»Nein, nein, alles bestens«, erwiderte Marnie schnell. »Aber meine Autobatterie ist tot, mein Handy funktioniert nicht und das Gebäude ist abgeschlossen. Da hat mich die Verzweiflung übermannt.« Jazzy nickte freundlich und Marnie spürte, wie ihre Hoffnungslosigkeit sich verflüchtigte. »Darf ich vielleicht Ihr Handy benutzen oder können Sie mich ein Stück fahren? Ich kann Ihnen den Aufwand bezahlen.«
»Am besten, Sie lassen mich mal rein«, Jazzy zeigte auf den Beifahrersitz. »Dann können wir das Problem lösen.«
Marnie nickte und schloss die Tür. Sie sah zu, wie Jazzy vor dem Wagen vorbeiging und einen kleinen Umweg machte, um mit regenbogenfarbenen Gummistiefeln fröhlich durch eine Pfütze zu stapfen.
Als Jazzy einstieg, legte sie ihre Tasche und den zusammengeklappten Regenschirm in den Fußraum und wandte sich Marnie zu. »Ist dieser Regen nicht unglaublich? Was für ein total verrücktes Wetter wir in letzter Zeit haben.«
»Ihre Stiefel gefallen mir«, meinte Marnie. »Ich kann mich gar nicht erinnern, sie während des Kurses gesehen zu haben.«
»Danke, sie sind neu. Ich hatte sie in meiner Tasche und habe sie erst vor ein paar Minuten angezogen. Komisch, ich hatte mir eine Gelegenheit gewünscht, sie zu tragen, und plötzlich öffnet der Himmel alle Schleusen!« Ihre Augen leuchteten. »Die reinste Magie.«
»Ich bin so froh, dass Sie vorbeigekommen sind. Ich habe eine Panne und weiß nicht, was ich tun soll.«
»Ach, Sie Arme. Sind Probleme mit dem Auto nicht einfach schrecklich? Das, und Ärger mit dem Computer. Ich fühle mich immer so hilflos, wenn etwas nicht funktioniert.« Jazzy fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Es ist so frustrierend, wenn man nicht weiß, wie man es repariert.«
Der Regen hämmerte gegen die Windschutzscheibe und ließ die Außenwelt nur noch verschwommen erkennen. Jetzt, da Hilfe da war, spürte Marnie, wie sie sich im Sitz entspannte. In der Hoffnung, dass Jazzy anbieten würde, sie nach Hause zu fahren, wartete sie einen Moment ab, aber als dieser Vorschlag ausblieb, sagte sie: »Darf ich vielleicht mal Ihr Handy benutzen? Bestimmt wollen Sie ja nach Hause und ich möchte Sie nicht unnötig aufhalten.«
»Ach, machen Sie sich deswegen mal keine Sorgen. Ich habe es nicht eilig.« Jazzy beugte sich vor und griff in ihre Tasche. »Sie dürfen mein Handy gerne benutzen.« Sie reichte es Marnie.
Auf dem Display des Handys standen die Worte »Ich bin super« und darum herum funkelten Sternchen. Bei dem Anblick musste Marnie lächeln, aber das Lachen verging ihr, als sie begriff, dass das Handy ihr nichts helfen würde. Sie kannte keine Telefonnummern auswendig. Sie hatte sich seit Jahren keine mehr gemerkt, da sie sich immer auf ihre gespeicherten Kontakte verlassen hatte.
»Es
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