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Auf dem Rücken des Tigers

Auf dem Rücken des Tigers

Titel: Auf dem Rücken des Tigers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Berthold
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Frage nachdenken müssen, aber heute war zu überlegen, ob sie sich mit der Zeit nicht nur mehr und mehr aus den Augen verloren, sondern sich auch auseinandergelebt hatten. Es war nicht daran zu rütteln, sie waren nicht mehr die Alten. Es hatte auch jede Voraussetzung gefehlt, daß sie es geblieben wären.
    Sie lebten in verschiedenen Welten. Die Frage blieb, wieweit Erik überhaupt noch seine Entscheidungen frei treffen konnte. Es ging weniger um die Rücksicht auf den Konzern als um Aglaia. Erik war kein Waschlappen, aber seine Frau hatte ihn durch seltsame Umstände in der Hand. Christian brauchte nicht nach Gründen zu suchen, um ihr alles zuzutrauen. Selbst wenn sie ihre durchaus berechtigte Aversion gegen ihn unterdrücken könnte, ginge es immer noch um ein mächtiges Industrie-Imperium, um Millionen, um viele Millionen, die klingenden Heerscharen der Macht.
    »Was ist eigentlich mit dir los?« fragte Erik.
    Christian wandte seine Augen nicht von ihm.
    »In letzter Zeit begegnen mir auffällig oft die gleichen Gesichter«, sagte Christian. »Deshalb frage ich mich: Wer schnüffelt hinter mir her?«
    Eriks Mund wurde zu einem geraden Strich. Christian beobachtete ihn scharf, konnte aber nicht sagen, ob der Bruder schweigen wolle oder schweigen müsse.
    Seit Monaten spürte er eine Gefahr, ohne zu wissen, ob diese zweifelhaften Warnsignale nicht bereits Vorboten einer heraufdämmernden Halluzinose seien. Der Instinkt war eine der Tugenden seines Berufs gewesen, zu einer Zeit, da sich sein Leben in Reisen, Gefahren und Erfolgen erfüllt hatte. Eine Art sechster Sinn hatte ihn dabei Situationen überleben lassen, an denen andere wohl zugrunde gegangen wären.
    »Handelt es sich um eine persönliche Anteilnahme« – Christian registrierte, daß seine Stimme häßlich klang, und sprach im gleichen Tonfall weiter –, »oder will mich der Konzern loswerden – oder erpressen – oder …«
    »Es tut mir leid«, antwortete Erik, »ich kann dich nicht verstehen.«
    »Interessierst du dich in letzter Zeit so intensiv für mich«, reizte ihn Christian, »oder deine Frau?«
    »Niemand kümmert sich um dein Privatleben«, entgegnete Erik.
    »Also Aglaia«, versetzte Christian.
    »Vielleicht trinkst du doch zu viel«, fing ihn Erik ab und sah zur Badezimmertür.
    Jutta hatte an den Stimmen gehört, daß ein Besucher gekommen sein mußte. Es bekümmerte sie nicht. Sie wickelte sich in ein Badetuch und ging in den Raum zurück. Im Vorbeigehen nickte sie Erik zu.
    Sein Zuhause lag in einem ganz anderen Milieu, doch als Herrenreiter schwang er sich in alle Sättel. Man sah ihm an, daß seine Abenteuer Zahlen waren, Bilanzen, Investitionen, Rückstellungen, Marketing und Manipulation.
    Erik betrachtete das Mädchen. Von Juttas schlanken Beinen tropfte das Wasser. Ihre Mähne hing wild und blond auf die nackten Schultern. Sie raffte ohne Eile und Verlegenheit ihre Kleidungsstücke zusammen. Christian verfolgte, wie sich ihre Augen trafen: ein Schlagwechsel fand nicht statt. Der Blick des Mädchens war ohne Scham; Eriks Augen zeigten keinen Vorwurf.
    »Das ist Jutta Sonstnochwie«, sagte Christian schließlich.
    »Schindewolff-Karlstad«, stellte sich der Besucher vor.
    Jutta taxierte ihn, mehr aus Gewöhnung als aus Neugier. Dieser Mann war vermutlich so korrekt wie sein Anzug, so steif sei sein Hemdkragen und so kühl wie sein Händedruck. Ein Mann, der eine gute Figur hatte und doch nicht aus seinem Korsett heraus konnte. Für Christian eigentlich ein recht ungewöhnlicher Umgang, wiewohl sie wußte, daß dieser Außenseiter das Ungewöhnliche suchte.
    »Mein Teilhaber«, stellte er vor.
    »Teilhaber von was?« fragte sie.
    Christian grinste breit: »Der Frack«, sagte er und wies flüchtig auf den Illustriertenbericht. Sein Gesicht sah aus wie eine Milchglasscheibe, die von einem Stein zerschlagen wurde. »Erik, mein großer Bruder.«
    Jutta hatte sich gleich gefragt, warum ihr der Mann so bekannt vorgekommen war, hatte es aber mit seinem Typ begründet: Hermann, der Cherusker, weizenblond, bildungsarm und muskelstark. Männer solchen Aussehens blieben einem im Gedächtnis. Daß er älter als Christian sein sollte, war erstaunlich. Er sah weit jünger aus.
    »Schließlich ist Erik drei Wochen älter als ich«, sagte Christian.
    »Drei Wochen?« fragte sie.
    »Ja«, erklärte Erik. »Wir hatten einen tüchtigen Vater.«
    Seine Antwort gefiel Jutta und nagte an ihren Vorurteilen. Konnte man zugleich Macht und Humor haben?

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