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Auf dem Rücken des Tigers

Auf dem Rücken des Tigers

Titel: Auf dem Rücken des Tigers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Berthold
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jammert sogar, wenn ihr trinkt. Ihr sterbt vor Selbstmitleid, weil eure Väter Nazis waren und aus euren Töchtern womöglich Huren werden. Ihr sterbt an jedem Tag. Ihr sterbt immer wieder. Nur vergeßt ihr zu sterben.«
    »Nur weiter so.« Christian streckte ihr die Schnapsflasche hin.
    »Laß das«, schob sie seine Hand weg. Sie nahm seine Pillen zur Hand, las das Etikett: »Warum nimmst du ein Leberpräparat, wenn du dich kaputttrinkst?«
    »Damit ich mich länger kaputttrinken kann«, versetzte er. »Hast du noch nie einen Narren gesehen, der beim Autofahren gleichzeitig auf Gaspedal und Bremse tritt?«
    »Ich bin Fußgängerin.«
    Christian stellte erst jetzt fest, daß sie hübsch war. Jutta glich nicht den anderen Mädchen und Frauen, auf die er beim Erwachen am Morgen gestoßen war, diesen Nutznießerinnen der Gelegenheit. Daß sie Witz zu haben schien, erfreute und beunruhigte ihn. Wenn sie nicht langweilig war, würde er unter Umständen versuchen, sie bei sich zu behalten.
    Doch Christian sammelte Eintagsfliegen, nicht Dauergäste. Er wollte sich an nichts mehr gewöhnen, Nichtsnutziges ausgenommen. An einer schönen Gewöhnung war er verblutet: ein Toter auf Urlaub seitdem, der sich sein Leben vom laufenden Meter schnitt, solange der Vorrat reichte.
    Jutta sah, daß sich seine Überlegungen mit ihr beschäftigten. Sein Mienenspiel ließ darauf schließen, daß der Verstand das Vitalste an ihm war. Seine Augen zogen sich in kleine Höhlen zurück wie müde Tiere, aber sie kehrten immer wieder, neugierig und zugleich unbeteiligt.
    Christian schaltete das Radio ein und hörte widerwillig zu: Vietnam servierte Tote zum zweiten Frühstück. Seit Jahren schon. Sie waren gezählt, fotografiert und sortiert. Meistens stellten in den westlichen Nachrichtensendungen die Roten die Toten. Der US-Oberbefehlshaber hatte die Strategie der Leichenzählung erfunden: Solange die kleinen Asiaten lebten, konnte er Freund und Feind nicht unterscheiden. Tot jedoch beseitigten sie bei ihm jeden Zweifel. Die Zerschossenen, Verbrannten, Gelynchten waren Feinde gewesen. Auch die Frauen. Auch die Kinder. Auch die Greise. Auch die Ungeborenen im Mutterleib. Napalmqualm hob sich täglich vom Schlachtfeld, Weihrauch der Schwarzen Messe.
    »Papas Krieg«, sagte Jutta.
    Ihre Antwort verblüffte Christian wieder. Er wühlte in einem Stoß Zeitungen, um die Stimme des Krieges verstummen zu lassen. Die Blätter gaben die Steinhägerflasche frei. Er trank wieder. Der Schnaps schmeckte nach Blut.
    Jutta hob die Zeitungen auf. Eine Illustrierte war aufgeschlagen: Bundespresseball in Bonn. Auf Hochglanz, das Papier wie die Dargestellten: eine lächelnde Dame neben einem lächelnden Kanzler.
    »Meine Schwägerin«, kommentierte Christian. »Sie heißt Aglaia, und der Frack im Hintergrund ist Erik.« Die Falten in seinem Gesicht zuckten: »Nur damit du einmal siehst, aus welch' feinen Kreisen ich stamme.«
    ›Die Leitung des Konzerns legt übrigens Wert auf die Feststellung, daß Christian Schindewolff-Bamberg in keiner Weise an ihr beteiligt ist‹, las Jutta.
    »Hast du das gesehen?« fragte sie ihn. »So fein sind deine Kreise gar nicht.«
    »Dem Konzernumsatz hilft's, und mir schadet es nicht. Narrenfreiheit«, sagte er.
    »Freiheit, die ich scheine«, versetzte Jutta.
    »Eigentlich habe ich mich selbst aus dem Konzern entlassen.« Christian fragte sich, wie er dazu kam, mit dem Mädchen darüber zu sprechen. »Immerhin gehört mir ein Drittel, wenn auch nicht mehr lange«, setzte er hinzu.
    »Wieso?«
    »Ein komischer Erbvertrag«, antwortete er. »Wer stirbt, scheidet aus – sofern er keine Kinder hat.« Er lächelte schief. »Unser Vater war ein Spaßvogel.«
    Jutta nahm die Zeitung zur Hand und suchte den Frack. »Dann wird also dein Bruder Alleinbesitzer?«
    »Schön wär's«, brummelte Christian. »Er hat doch auch keine Kinder.«
    »Warum macht ihr euch eigentlich keine?«
    Er wollte zornig werden, mußte aber doch lachen: »Ich bin nicht so familiär«, erwiderte er, »und Erik, mein Bruderherz …«, brach er ab, fand aber dann seine Eröffnung zu lustig, um sie zu unterschlagen: »Meinst du, daß man einem Nackten in die Tasche greifen kann?«
    Jutta blätterte die Illustrierte um.
    Der nächste Bericht kam nicht aus Bonn, sondern aus Saigon. Die Menschen trugen keinen Frack, und manche von ihnen nicht einmal mehr ein Gesicht.
    Jutta warf die Zeitschrift weg, als hätte sie in Schmutz gewühlt. Sie richtete sich auf. Sie hatte

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