Auf dem Weg nach Santiago
leben noch ihr eigentliches Leben, während in
Frankreich, der Westen ausgenommen, die meisten von ihnen ihrer Bestimmung entfremdet,
wenn nicht gar zerstört sind.
Ein dutzendmal haben wir in Puente la
Reina, in Estella, in Cirauqui angehalten, vor einem Toreingang, einem Gewölbe,
einer Skulptur, tiefbewegt — wie vor jenem geschnitzten und farbig gefaßten
Gekreuzigten, den ein deutscher Pilger des 15. Jahrhunderts hinterlassen hat.
»Herr«, so singt der Psalm, »ich liebe die Zierde deiner Wohnung.«
Wer waren sie denn, diese Grobiane, daß
sie es verstanden, das schwindelerregende Geheimnis unseres Daseins dem
Kalkstein anzuvertrauen? In Puente la Reina — alte, enge Gasse, alte Brücke
über den Río Arga, uralter Geruch aus der Tiefe der Jahrhunderte — hatten wir
den Eindruck, sie allmählich zu verstehen.
(Was sie in Wirklichkeit anfangen zu
verstehen, aber in Worte zu fassen sich weigern, ist dies: Mit einem Abstand
von einem Jahrtausend geht es für sie darum, dieselbe Nacht hinauszuzögern,
dasselbe Chaos zu ordnen, auf dieselbe Frage eine Antwort zu geben. Alles in
allem ist es wohl kein Zufall, daß sie sich auf denselben Weg machten.)
Gemeinsames Wegtagebuch, Donnerstag, 19. Mai.
Ein Monat ist seit unserem Aufbruch in
Vézelay vergangen. Der Regen der Pyrenäen hat uns noch nicht verlassen. Navarra
hat uns in wenigen Tagen seine jährliche Niederschlagsmenge auf den Rücken
geschüttet. Ein Wetter, bei dem man keinen Hund hinausjagt.
Nur in den seltenen fondas (Gasthäuser) am Weg konnten wir unsere Füße ausruhen. Hier, naß bis auf die
Haut, bestellten wir die tortilla (Eierkuchen) des Tages und schnürten
heimlich unter dem Tisch unsere Schuhe auf, scheinheilig wie Kinder, die im
Badewasser Pipi machen.
Abgesehen von der Unannehmlichkeit des
Regens bedauerten wir es sehr, dem camino nicht auf seiner ganzen Länge
folgen zu können. Zwischen Roncesvalles und Compostela ist er noch in die Erde,
in den Stein, in das Gedächtnis eingegraben. Es kommt vor, daß ihn die
Nationalstraße verdeckt, doch die meiste Zeit findet man ihn dort, wo er war.
Er ist zwar schlecht instand gehalten, oft voller Schlaglöcher, recht
ungemütlich zu gehen, durch Flurbereinigungen und — teilungen abgeschnitten;
doch gibt es noch wunderbare Restabschnitte, und man erkennt gut an der Art und
Weise, wie er sich hier durch das Gelände frißt, dort sich krümmt, daß es ein
großer Weg war.
Gut zwanzig Marktflecken oder Dörfer
fügen ihrem Namen die Bezeichnung del Camino oder de la Calzada (von der Straße) hinzu. Mehrmals findet man auch die Ortsbezeichnung Hospital
mit einem Beinamen. Die Anwohner der Straße grüßen den Pilger so ganz natürlich
und wünschen ihm »guten Weg« und sogar »gute Buße«. Eines Tages hat uns eine
alte Frau trippelnd eingeholt; fieberhaft kramte sie aus ihrem verknoteten
Taschentuch ein Fünfpesetastück [damals gut 12 Pfennig; Anm. d. Ü.] und bat
uns, es für sie in einen Opferstock der Kathedrale von Santiago zu werfen.
Besorgt ließ sie uns den Auftrag wiederholen, um sich zu vergewissern, daß wir
verstanden hätten; dann bekreuzigte sie sich. »Gott begleite euch !« Sie blickte uns nach. Seit langem schon beunruhigte unser
Image uns nicht mehr; diesmal jedoch haben wir, wir Schuhsohlenabschleifer und
Schweißstinker, mit einem Ruck den Sack auf dem Rücken zurechtgesetzt und den
Weg fest unter die Füße genommen: Wir waren mit einer Sendung beauftragt.
Als Reiseführer benutzten wir Le
Chemin de Saint-Jacques en Espagne, eine 1973 von Abbé Georges Bernés in
einer Auflage von tausend Exemplaren veröffentlichte Broschüre, 1976 durch M.
Ucla überarbeitet. Mehr als einmal haben wir Bernés und seinen Weg verflucht,
wenn wir verloren in den richtungslosen Sierras herumirrten. Aber da uns keine
genaueren Karten zur Verfügung standen als die Firestone 1:400 000, wurde der
Bernés doch unser treuester Begleiter — sobald wir gelernt hatten, seine Lyrik
zu entziffern und seiner Manie zu entgehen, die Furten als freudvolle Erlebnisse
anzuempfehlen.
Leider zwang uns der Mairegen zu oft,
wieder die Landstraße zu nehmen, dieses Jagdrevier der mächtigen, halbwilden
Barreiros-Lastwagen, die uns, ohne auch nur um eine Reifenbreite auszuweichen,
ganze Güsse Dreckwasser ins Gesicht schleuderten und uns mit ihrer Hupe fast
umwarfen. Wir haben sie gehaßt, verflucht, Wagen und Fahrer zusammen. Aber es
war ein Kampf am Straßenrand; die Staatsstraßen sind nicht zum
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