Auf dem Weg nach Santiago
Wandern da.
Gemeinsames Wegtagebuch, Freitag, 20. Mai.
In Santo Domingo de la Calzada sind wir
wieder in einem Hotel abgestiegen, um uns zu trocknen — die alte Pilgerherberge
hatte sich in einen parador [staatliches Hotel; Anm. d. Ü.] mit vier
Sternen verwandelt; es blieb uns das Haus Santa Teresita, das von
Ordensschwestern unterhalten wird.
Eine Zisterzienserin mit einer
Gesichtsfarbe wie altes Elfenbein brachte uns eine Suppe, die man hätte
schneiden können, und eine Flasche mit violettem Wein. Der Speisesaal war mit
krummbeinigen Anstandsdamen und hinkenden, buckligen Greisen besetzt; sie sahen
eher gutmütig aus und waren sicher von ihrer Familie hierher ausgelagert
worden. Sobald sie ihren gebackenen Tintenfisch verzehrt hatten, war es, als
hätte Bunuel zur Rekreation geläutet: Sie schlurften mit unsicheren Schritten
hinaus, schwenkten ihre Krücken, klammerten sich an die Tische, holten tief
Luft und stürmten dichtgedrängt in den Gemeinschaftsraum — um sich die besten
Plätze vor dem Fernsehgerät zu sichern.
Unter ihnen eine schöne junge Frau in
Blue Jeans, mit ruhigem Blick. Sie erinnerte uns an jene andere Frau, der wir
in den Landes begegnet waren und die uns von einer
Wallfahrt nach Jerusalem erzählt hatte. »Unter sehr guten Bedingungen«,
versicherte sie genauer, »mit einer Gruppe schwer Bewegungsgeschädigter .« Das hatte uns in Erstaunen versetzt. Was ist eigentlich
das Wesen der Nächstenliebe?
Über dem Kircheneingang von Santo
Domingo steht ein treffendes Wort: »Alles ist herkömmlich, nur die Liebe nicht .« Im Kircheninneren begrüßt uns ein Kikeriki. Es ist ein
prachtvoller weißer Hahn, einer der berühmtesten mittelalterlichen Legenden,
der vom abgehängten Gehenkten, entsprungen.
Der Zulauf zu den Legenden war fast
ebenso stark wie der Zulauf zu den Reliquien. Diese Gutgläubigkeit verwirrt
uns, uns, die alles mit der Vernunft durchleuchten und es nicht mehr verstehen,
dem Traum sein Recht zuzugestehen. Aber bitte: Wie soll man glauben, daß Roland
tatsächlich den Berg mit einem gewaltigen Schwertstreich durchgespalten hat,
auch wenn es das Schwert Durandal war? Millionen Menschen unserer Tage glauben,
daß Maria als Jungfrau und Mutter zugleich den Sohn Gottes wirklich geboren
hat. Ist da ein so großer Unterschied?
Kurz, was uns am meisten mangelt, um
uns als Pilger zu fühlen, ist der Glaube. Die Pilger von einst erlebten auf dem
Weg das große Abenteuer. Gebete und Gesänge gaben den nötigen Schwung und
hielten die Verbindung zum Jenseits aufrecht, Wunder, Reliquien und Legenden
sorgten für geistliche Würze. Diese Pilger folgten dem Stern.
Ob großartige Heiligtümer aus Haustein
oder Kapellen aus Granit, klein wie Straßenarbeiterhütten, jeder Abschnitt
brachte sie der Vergebung und dem Heil näher. Die Gefahren der Straße
steigerten noch ihre Hoffnung. Immer konnten falsche Fährleute, falsche Führer,
echte Banditen und echte Wölfe, auch die Kälte und jegliches Übel ihre Reise
unterbrechen. Wie viele von ihnen mußten in den gottverlassenen Gegenden
Kastiliens, im Dickicht verkrochen oder an die Wegkreuze geklammert,
angsterfüllte Nächte verbringen. Und wie viele sind auf dem längsten Weg ihres
Lebens ganz einfach gestorben...
Wir freilich, wir wissen stets
kilometergenau, wo wir uns befinden; wir könnten, wenn nötig, in weniger als 24
Stunden nach Paris zurückkehren; wir haben weder Fährleute noch Wölfe zu
fürchten. Aber uns erwartet auch niemand am Abend, um uns die Füße zu waschen
oder uns die neueste Legende zu erzählen, und Burgos öffnet uns nicht mehr
seine einunddreißig Herbergen.
Was wir da unternehmen, hat nur noch
für die alten Leute am Weg einen Sinn. Die anderen halten uns in unserer Landstreicherkluft
mehr für Sprößlinge von Baden Powell oder der heiligen Teresa von Avila. Die
Entwurzelten, das sind wir.
(Wir erreichen hier, meine Damen und
Herren, einen entscheidenden Punkt der Reise. Die wahren Fragen nehmen endlich
Gestalt an. Wenn sie in die Kirchen eintreten und gewissenhaft die Kapitelle in
allen Einzelheiten studieren, ist es wirklich, um hier den Menschen zu finden,
wie sie sagen, oder nicht vielmehr, um hier Gott zu suchen?)
Tagebuch J.-N. Gurgand
Ich liebe Burgos nicht. Der Cid interessiert
mich nicht. Und ich habe auch nicht schlafen können. Wenigstens habe ich mich
in dieser Nacht an einen geheimnisvollen Abzählreim erinnert, den wir in der
Schule sangen, wenn uns bei Schulbeginn die Neuen
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