Auf dem Weg nach Santiago
in
Spanien. Wir waren von einem Land ins andere gekommen, ohne es selbst zu
merken. Kein Stacheldraht da oben, nicht die geringste Polizei- oder
Zollkontrolle. »Wir? Wir sind überhaupt nichts«, so hatte ein Gendarm in den
Landes gesagt. »Ihr werdet sehen, an der Grenze !« Welche Grenze, Brigadier? Im Supermarkt der großen Grundsätze haben wir nichts
Besonderes geklaut: nur eine kleine F reiheit, aber welch ein Jubel darüber!
Von den einen abgewiesen, den anderen
entwischt, nur mit unseren brennenden Fußsohlen behaftet, fühlten wir uns
endlich befreit; eine alte, überschwengliche Ungeduld erfaßte uns.
In Roncesvalles verkündete ein Schild:
»Compostela 787 Kilometer«.
Gemeinsames Wegtagebuch, Sonntag, 15. Mai.
Früh am Morgen begegneten wir auf der
Straße nach Pamplona auf freiem Feld einer Prozession. Es waren zwei- oder
dreihundert Leute. Männer in Kutten, die große Holzkreuze trugen, Frauen in
Schwarz; mindestens eine ging barfuß; sie alle wiederholten die Gebete, die
ihnen aus dem Lautsprecher eines nachfolgenden Wagens zugeplärrt wurden. Wo
waren wir da hingeraten?
Etwas später hielten uns Madrider
Studenten an, um uns nach dem Weg zu fragen. Sie waren unterwegs zum Zweck einer
»politischen Umfrage«. »Politisch« — das Wort war neu und reichhaltig, sie
wiederholten es nach Herzenslust, behielten es im Mund, stets bereit, es zu
einer prahlerischen Blase aufzublasen, wie Jungen es mit dem endlich erlaubten
Kaugummi tun. Überall redeten die Mauern von Amnestie und Revolution.
In Pamplona selbst, wo wir über die
Festungswälle und durch das Französische Tor eintraten, herrscht eine seltsame
Stimmung wie nach einem dramatischen Tag. Polizeistreifen, erregte
Menschenansammlungen, plötzlich leere Straßen. Im Labyrinth der Altstadt suchen
wir uns zurechtzufinden, als plötzlich neben uns ein mit Handgranaten
gespickter Land-Rover anhält. Ein bewaffneter Soldat steigt herunter, kommt auf
uns zu und... geht zwischen uns hindurch, ohne uns anscheinend zu bemerken. Er
löscht hinter uns eine Kerze aus und nimmt einen Strauß Rosen weg, den man am
Fuß einer Mauer unter einer grob hingemalten Fahne niedergelegt hatte.
Als wir den Offizier im Land-Rover nach
der Kathedrale fragen, hebt er ungläubig die Augenbrauen. Wir bringen schnell
in Erfahrung, daß zwei Tage zuvor hier ein Journalist erschossen worden ist. So
starben also weiterhin Menschen an den Straßenkreuzungen, während wir unsere
Füße betrachteten...
Tagebuch J.-N. Gurgand
Ich traue den Spaniern nicht. Ich kenne
Spanier nur aus einigen Romanen, die ihre Neigung zu wilden und tragischen
Festen feiern. Ihr Männlichkeitskult und ihre Weise, vom Tod zu sprechen,
machen sie mir fremd. Wenn ich hier jetzt dem einen oder anderen begegne, kann
ich nicht umhin, mich zu fragen, auf welcher Seite er im Jahre 1936 wohl
gestanden haben mag, oder ob nicht der da beim nächsten encierro (Stierhatz) in
den Straßen vor den Stieren herlaufen wird. Ich ärgere mich selbst über diese
meine Haltung.
Gemeinsames Wegtagebuch, Dienstag, 17. Mai.
Wir haben Pamplona hinter uns gelassen
und sind nun in Estella. Die Landschaft ringsumher ist unbebaut, reine Natur,
ohne Zäune und Landstraßen zweiter Ordnung. Weder Weiler noch Einzelhöfe. Die
Dörfer drängen sich um Kirchen und Sparkassen — die beiden Kapitalanlagen des
Spaniers.
Die caja de ahorros (Sparkasse),
sei es nun eine Gemeindekasse, eine Regionalkasse oder eine katholische Kasse,
meldet sich reklamestark an jedem Stadt- oder Dorfeingang, preist aufdringlich
ihren Geschäftserfolg unter ihrer Kundschaft, den Armen. Überall bezeugen
öffentliche Bänke oder Rutschbahnen für Kinder ihr Dasein. Das ist kein
Eichhörnchen mehr [Firmenzeichen der französischen Sparkassen; Anm. d. Ü.], das
ist ein Polyp. Und es geht ihm gut. Wenn die Preise jährlich um mehr als 25%
steigen und man weniger als 8% Zins auszahlt, gleicht das Geschäft ziemlich
stark einer Erpressung. Aber wenn dieses gestohlene Geld dem Sparer fehlt, nun,
dann kann ihm ja der Polyp nicht allzu teuer etwas von dem bei ihm
niedergelegten Geld leihen...
Auch das Heilige ist überall
gegenwärtig, alltäglich, vertraut: in den geschleckten, süßlichen
Devotionalienläden an den Stadttoren, in den komplizierten, an Unterschriften
erinnernden Kreuzzeichen, welche die schwarzgekleideten Frauen mit hoher
Geschicklichkeit ausführen. Die meisten der alten, geputzten, gebohnerten und
blumengeschmückten Kirchen
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