Das unheimliche Medium
An diesem herrlichen Herbstabend war Vincent Miller so zufrieden wie seit langem nicht mehr. Er hätte singen und jubeln können, denn die drei mit Touristen gefüllten Busse aus Germany hatten seine Kasse so richtig klingeln lassen.
Himmel, was hatten die Leute eingekauft! Alle möglichen und unmöglichen Dinge, besonders englische Schokolade, als hätten sie nie andere gegessen.
Jedenfalls war der Verdienst des Lebensmittelhändlers erheblich gestiegen, und der Witwer dachte daran, diesen ausgehenden Tag zu feiern.
Ins Wirtshaus gehen, sich was gönnen, auch mal eine Runde schmeißen, das war es doch, was die Leute im Ort liebten. Schließlich gehörte er als Kaufmann zu den Besserverdienenden.
Zuvor aber mußte er eine Bestandsaufnahme machen. Er hatte die große Kladde hervorgeholt, das Licht eingeschaltet und ging mit der Kladde in der linken und dem Kugelschreiber in der rechten Hand an den Regalen entlang. Es war ja nicht nur Schokolade gekauft worden, auch andere Ware war weggegangen wie warme Semmeln. Sogar Konserven, die er zwischendurch schnell noch abgestaubt hatte. Es war ihm auch dank seiner Geschicklichkeit gelungen, sie aus dem Bereich der Sonderangebote herauszunehmen.
Er kicherte. Eine diebische Freude breitete sich in seinem Innern aus, und in seinen Augen lag der Glanz, der immer dann auftrat, wenn jemand ein dickes Geschäft gemacht und andere dabei etwas übers Ohr gehauen hatte.
Ein schlechtes Gewissen hatte er dabei nicht. Die Horde würde nicht wiederkommen. Sie hatten es alle eilig gehabt, weil sie noch am selben Tag die Fähre in Dover erreichen wollten.
Ja, das waren tolle Stunden gewesen.
Plötzlich war seine Euphorie verschwunden. Er stand vor der Kühltheke, die nur zur Hälfte gefüllt war, weil es kein einziges Eis mehr gab. Die Veränderung traf ihn wie ein Schlag. Miller wußte selbst nicht, was mit ihm geschehen war. Er stand vor der Theke, starrte hinein, wollte die Waren zählen und brachte keine Addition zustande.
Zunächst nahm er das nicht so tragisch, er lachte sogar über sich selbst, doch das Lachen verging ihm bald. In seiner Kehle spürte er ein dumpfes Gefühl, als wäre vom Magen her eine Faust in die Höhe gedrungen und auf halbem Weg steckengeblieben.
Etwas war nicht in Ordnung!
Er schluckte, der Kloß blieb. Miller räusperte sich. Vergeblich. Dann fluchte er und lauschte seiner Stimme, die sich so fremd und rauh anhörte. Auf seinem Kopf wuchsen nur wenige Haare. An den meisten Stellen schimmerte die blanke Haut durch, und sie wiederum war mit einem dünnen Schweißfilm bedeckt, was er auch nicht begriff, denn so warm war es in seinem Geschäft nicht. Da konnte eigentlich niemand ins Schwitzen kommen.
Es lag also nicht an der äußeren Temperatur, sondern an der inneren.
An seiner eigenen Instabilität, für die er eine Erklärung suchte. Vielleicht waren die letzten Stunden doch etwas zu hektisch gewesen. So etwas war er einfach nicht gewohnt. Er hatte sich abgehetzt, aber es hatte ihm Spaß gemacht, auch deshalb, weil er nicht mit den Dorfweibern quatschen mußte, die zwar regelmäßig kamen, aber nur wenig kauften.
Die Kladde kam ihm sehr schwer vor. Er legte sie weg. Es ging ihm nicht besser, im Gegenteil, er spürte den Schweiß auch auf seinem Gesicht und hörte, wie er schwer und seufzend Atem holte.
Die Dinge in der Truhe verschwammen vor seinen Augen. Er konnte das Paket mit dem Rotkohl nicht von dem mit dem Spinat unterscheiden. So etwas war noch nie vorgekommen. Da konnte doch einer mit dem Hammer reinschlagen, das war schlimm.
Miller hatte einen Punkt erreicht, wo er nicht mehr weitermachen wollte.
Er mußte sich ausruhen. Seine Wohnung lag über dem Geschäft. Vom Laden her führte eine Wendeltreppe hoch. Mit der rechten Hand fuhr er über seinen Kopf und verteilte die wenigen Haare.
Lag es am Wetter? Möglich, denn für die Jahreszeit war es schon zu warm. Einige Experten rechneten sogar mit schweren Stürmen und Unwettern, die aber sollten erst in einigen Tagen über das Land brausen.
So hatte er also noch Zeit.
»Mist!« keuchte er. »Verdammter Mist!«
Er ging einige Schritte und zog seine Füße dabei nach. Immer wieder verfiel er in Grübeleien, starrte zu Boden und blieb schließlich vor den drei Stufen der kleinen Treppe stehen, die zur Wohnungstür führten.
Danach mußte er eine normal lange Treppe hochgehen, um in seine drei Zimmer zu gelangen. Da es in dem Haus keinen Keller gab, hatte er sich den Flur zu einem Lager
Weitere Kostenlose Bücher