Die Nonne und der Tod
Prolog
In letzter Zeit denke ich oft an den Toten im Weiher. Die Erinnerung ist so lebendig wie ein Traum, aus dem man mitten in der Nacht hochschreckt.
Es war der erste frostfreie Tag des Jahres, und ich stand hinter der Scheune und sah zu, wie ihn unser Knecht Michael aus dem Wasser zog. Ich spürte das feuchte Gras unter den dünnen Sohlen meiner Lederschuhe, die kleinen Steine dazwischen, und hörte das Knirschen des Eises auf dem Weiher.
Der Tote konnte noch nicht lange im Wasser gelegen haben. Die Fische hatten seine Augen gefressen und seine Lippen, aber ich erkannte ihn an der langen Narbe auf der Stirn. Es war Utz. Ich wusste nicht mehr, woher die Narbe stammte, nur noch, dass er eines Abends an unserer Tür gestanden hatte, gestützt von seinen Töchtern Erika und Anne, und meine Mutter um Hilfe bat. Sie hatte das Blut von seinem Gesicht gewaschen, die Wunde mit der Nadel, mit der sie sonst meine Kleider stopfte, genäht und ihm einen Kräutersud gekocht. Sie wusste viel über solche Dinge, über Wunden und Kräuter, Wehwehchen und wie man sie lindert. Heute glaube ich, dass man uns nur deshalb nicht aus dem Dorf jagte.
Michael zog Utz mit seiner Angel aus dem Weiher. Wir waren allein. Mutter war schon vor dem Morgengrauen zum Markt nach Coellen aufgebrochen, um Stoff für meinen neuen Rock zu kaufen. Sie sagte, ich würde schneller wachsen als das Unkraut in den Beeten. Wäre sie zuhause gewesen, hätte sie mich weggeschickt, hätte mich davon abgehalten, in das aufgeschwemmte grinsende Gesicht zu blicken, von dem Wasser wie Tränen ins Gras tropfte. Aber sie war nicht zuhause. Und so stand ich am Weiher, die Enden des Stricks, der meinen zu kurzen Rock zusammenhielt, um die Finger geschlungen und sah zu, wie Michael den Umhang des Toten über dessen Gesicht ausbreitete.
»Gott sei deiner Seele gnädig, Utz«, sagte er und wischte sich die nassen Hände an der Hose ab.
Ich runzelte die Stirn, verstand nicht, wieso er so traurig klang.
»Hat Gott ihn nicht ins Wasser gestoßen?«, fragte ich.
Michael musterte mich, dachte wohl darüber nach, wie viel ich von dem mitbekommen hatte, was geschehen war. »Weshalb sollte Gott etwas so Schreckliches tun?«
Ich streckte den Arm aus und zeigte auf den Weg, der vor unserem Haus verlief und durch das ganze Dorf führte. An seinem Ende, hinter Brombeerhecken und flachen Hüttendächern, ragten schwarz verkohlte Balken empor. »Deshalb.«
»Und was glaubst du, ist da passiert?«
Ich zögerte. Uns Kindern hatte man erzählt, Räuber wären in der Nacht vor Utz’ Hütte aufgetaucht, aber wir wussten es besser, hatten die letzten Tage damit verbracht, uns unsere eigene Geschichte zusammengereimt aus dem, was die Erwachsenen sich zuflüsterten, wenn sie glaubten, allein zu sein. Es war nicht schwer gewesen, schließlich wurde seit jener Nacht über nichts anderes im Dorf geredet.
»Ich glaube«, sagte ich, »dass Utz seine Familie erschlagen hat, weil er hungrig war und sie ihm alles wegaßen. Und dann wollte er zu unserem Haus, aber weil wir immer beten und zur Messe gehen, hat Gott ihn in den Weiher geworfen.«
Ärger zog wie eine Wolke über Michaels Gesicht, verschwand dann aber wieder. »Du bist zu jung und zu …« Er unterbrach sich. Damals wusste ich nicht, was er sagen wollte, doch heute kann ich es mir denken.
»… um das zu verstehen«, fuhr er fort. »Utz war ein guter, anständiger Mann. Du solltest für ihn beten, nicht über ihn tratschen.« Er warf einen kurzen Blick auf den Toten unter dem Umhang, als würde er von ihm Zustimmung erwarten. »Utz hat sein Weib und seine Kinder geliebt. Mehr musst du nicht wissen.«
Michael hob seine Angel auf und wandte sich ab.
»Dann waren es doch Räuber?«
Er blieb stehen. Einen Moment lang sagte er nichts, aber ich sah, wie sich seine Hand fester um die Angel schloss. Dann drehte er sich zu mir um. Der Ärger war in sein faltiges, raues Gesicht zurückgekehrt. »Weißt du, was Hunger heißt, Kind? Weißt du, was es heißt, morgens aufzuwachen und deine Kinder vor Hunger schreien zu hören? Wenn du das letzte Huhn geschlachtet und die Saat für das Frühjahr aufgegessen hast und dein Feld brachliegen muss?«
Er machte einen Schritt auf mich zu. Ich wich zurück. Noch nie hatte ich Michael so wütend gesehen.
»Du und deine Mutter, mit euren zwei Mahlzeiten am Tag und einem Stall voller Ziegen, ihr wisst nichts. Ihr werdet nie verstehen, dass ein Mann einen Stein in die Hand nimmt und seinen Kindern
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