Auf Den Schwingen Des Boesen
grauenvollen Angst- und Schmerzensschreie auszublenden.
Als das Licht und die Schreie abflauten, öffnete ich meine Augen einen winzigen Spalt, um zu sehen, was geschehen war. Was ich erblickte, raubte mir schier den Atem.
Lilith war ganz. Ihr Körper war kein Phantom mehr. Sie war fest und real wie ich. Die Constantina-Halskette schimmerte in sattem Schwarz. Langsam trat Lilith auf mich zu und spähte in mein Gesicht. Der Geruch nach in der Erde vermodernden Knochen, den sie verströmte, brachte mich fast zum Würgen. Sie hob die Hand und ließ den Handrücken über meine Wange gleiten. Die Glätte ihrer Fingernägel ließ mich erschauern. Dann fuhr ihr Nagel meine Wange hinauf, diesmal jedoch mit der Nagelspitze, die meine Haut aufschlitzte. Der stechende Schmerz ließ mich die Zähne zusammenbeißen, und ich spürte, dass sich eine halbmondförmige blutige Linie über meine Wange zog.
»Das fühlt sich so viel besser an«, seufzte Lilith zufrieden. Auch ihre Stimme klang schon viel kräftiger als zuvor. »Ich würde so gern noch weiter mit dir plaudern, Gabriel, dir vielleicht noch ein paar Fingerchen abreißen, aber ich bin zu aufgeregt und kann es kaum erwarten, meinen Geliebten zu wecken. Der Zeitpunkt ist gekommen. Später werden wir uns dann mit dir amüsieren. Keine Sorge, es dauert nicht mehr lange.«
Ihre Mundwinkel zogen sich zu einem boshaften kleinen Lächeln nach oben, bevor sie sich Bastian näherte. Sie nahm ihm den Dolch aus der Hand und drückte sich die Klinge tief in den Arm. Es war genau dieselbe Stelle, wo Bastian mich geschnitten hatte. Er hielt die Schale mit meinem Blut hoch und ließ Liliths Blut hineinlaufen. Die Macht unseres vermischten Blutes sickerte aus der Schale und wogte wie eine wallende Nebelwolke über den Boden – ein Anblick, bei dem mir sämtliche Härchen am Körper zu Berge standen.
»Engelsblut«, murmelte Lilith, als sie Bastian den Dolch reichte und die Schale entgegennahm. »Dämonenblut. Setzt das Ritual fort.«
Erneut ertönte Kelaenos Gesang, ein neuer Zauber, anders als der, durch den Lilith ihren festen Körper zurückbekommen hatte. Die Dämonenkönigin stand vor dem Sarkophag und platzierte die Schale mitten auf den Deckel, wo sie durch eine Einkerbung in Schrägstellung geriet. Das Blut begann herauszulaufen und folgte den Rillen im Stein – nach oben, nach unten, nach rechts, nach links und im Kreis füllte es den henochischen Bannzauber aus, der Sammael gefangen hielt.
Furcht kroch in mir hoch. Es war mehr als einfache Angst. Unfassbares Grauen erstickte jeglichen Versuch, Tapferkeit vorzutäuschen, im Keim und raubte mir alle Kraft.
Nach und nach füllte das Blut die eingemeißelten henochischen Schriftzeichen aus, und im Inneren des Sarkophags erhob sich ein Zischen und Fauchen, als wäre ein Tresor entriegelt worden. Trotz meiner Panik konnte ich den Blick nicht davon abwenden.
»Nehmt den Deckel ab«, befahl Lilith, und ihre hohe, volltönende Stimme hallte in meinem Schädel wider.
SECHSUNDZWANZIG
I n Bastians Gesichtsausdruck spiegelte sich eine Mischung aus freudiger Erregung und Beklommenheit, als er an Liliths Seite vor dem Sarkophag stand. Kelaeno und Merodach schoben den schweren Steindeckel weg und stellten ihn beiseite. Ich fragte mich, ob Bastian zumindest für einen Moment bedauerte, was er getan hatte, und ob er seinen Entschluss, Sammael zu befreien, in Frage stellte. Doch er tat nichts, sondern wartete genauso erstarrt wie ich auf das Auftauchen der Bestie. Er schluckte, und ich sah seinen Adamsapfel auf- und abwärtswandern, während seine Brust sich hob und senkte und er den Blick starr auf den Sarkophag gerichtet hielt. Da erkannte ich, dass er vor Angst wie gelähmt war.
»Bastian«, rief ich mit gedämpfter Stimme. Er warf mir einen seltsamen Blick zu und wirkte alles andere als erfreut. »Du kannst das nicht tun, Bastian. Bitte, halte sie auf.«
Er musterte mich abschätzig, als würde er überlegen, ob er mich ernst nehmen sollte oder nicht. »Es gibt keinen anderen Weg.«
»Warum willst du die Welt zerstören?«, fragte ich mit bebender Stimme.
Er schüttelte den Kopf. »Wir wollen die Welt nicht zerstören, nur um sie zu vernichten. Wir werden sie wieder aufbauen.«
»Woher willst du wissen, dass du Sammael im Zaum halten kannst?«, gab ich ihm zu bedenken. »Er ist zu mächtig. Du hast keine Ahnung, was er tun wird! Er ist zu gefährlich, um befreit zu werden, und das weißt du auch. Du musst sie
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