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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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ihre Entscheidung letzte Nacht gefällt.
    Der Plan, zu dem sie sich durchgerungen hatte, beruhte auf seinem öffentlichen Image. Schließlich war dadurch der Streit am vergangenen Abend ausgelöst worden. Und es war, das mußte Cassie zugeben, ebensosehr Teil seines Lebens wie sie. Sobald der Goldjunge nicht mehr so golden schien und sobald er herausgefunden hatte, wer die Schlammschlacht ausgelöst hatte, wäre sie frei. Alex würde ihre Anschuldigungen entweder bestätigen, um Hilfe bitten und auf allgemeines Mitleid hoffen müssen, oder er würde sich wehren, ihre Geschichte abstreiten und über sie herziehen müssen. Im Grunde war es egal, welchen Verlauf die Dinge nahmen. Wie auch immer, Alex wäre ruiniert; wie auch immer, es würde sie umbringen.
    Weil sie Alex zwingen mußte, sie nicht mehr zu lieben, und selbst nicht aufhören konnte, ihn zu lieben.
    Sie öffnete die Haustür und ging barfuß die Marmortreppen und den gewundenen Pfad hinunter, der zum Pool und zu den Außengebäuden führte. Eines Tages würde sie Connor Bilder von diesem Schloß zeigen und ihm erzählen, daß er um ein Haar als Amerikas Kronprinz aufgewachsen wäre. Sie ging zum zweiten kleinen Haus, dem Labor, das Alex nach ihrer Hochzeit für sie eingerichtet hatte.
    Es war dunkel und muffig; sie war in den Wochen seit ihrer Rückkehr immer mal wieder für ein paar Minuten hiergewesen; aber Connor konnte zu leicht etwas passieren, deshalb ließ sie ihn tagsüber nicht allein im Haus. Sie schaltete das Licht an und sah, wie die Farben der Vergangenheit den höhlenartigen Raum überschwemmten: vergilbte Knochen und glänzende Metalltische, silberne Werkzeuge und satte, rote Erde.
    Plötzlich fragte sie sich, wie die Landschaften wohl ausgesehen hatten, aus der diese Knochen stammten. Und was die Leute, die von diesen Knochen aufrecht gehalten wurden, den ganzen Tag getan hatten. Ihr war klar, daß ihre Fragen für jemanden, der die Kulturanthropologie immer in Grund und Boden verdammt hatte, eigenartig und fremd klangen. Irgendwie kam es Cassie so vor, als sei die Anthropologie für sie ein abgeschlossener, faszinierender Raum gewesen und als habe sie dann einen Vorhang zurückgezogen, hinter dem sie immer eine kleine Kammer vermutet hatte, nur um einen neuen, doppelt so großen Raum zu entdecken.
    Ihre Arbeit würde ihr bleiben, wenn sie Alex verlassen hatte - sie hatte sie gehabt, bevor sie ihn kennenlernte, und sie war ebensosehr ein Teil ihrer selbst wie Connor –, aber ihr Forschungsansatz wäre nicht mehr derselbe. Sie hatte die Möglichkeiten gesehen. Nun, nach Pine Ridge, könnt sie sich nicht mehr vorstellen, sich in einem Vakuum mit nackten Knochen zu beschäftigen. Denn zumindest eines hatte Cassie von den Lakota gelernt: Auch wenn eine Person aus Muskeln und Knochen und Gewebe bestand, so wurde sie doch in gleicher Weise von den Mustern ihres Lebens und ihren Entscheidungen und den Erinnerungen geformt, die sie an ihre Kinder weitergab.
    Bevor Cassie nach Pine Ridge geflohen war, hatte sie sich mit einem Schädel aus Peru beschäftigt, den ihr ein Kollege geschickt hatte und aus dessen Schädeldecke eine kreisrunde Knochenscheibe entfernt worden war. Der Wissenschaftler, der ihr den Schädel überlassen hatte, wollte ihre Meinung über die Ursache dieser Beschädigung wissen. Stammte sie von Menschenhand - wurde sie während einer Operation mit einer Trephine gebohrt, um ein Amulett zu fertigen oder um Kopfschmerzen zu lindern - oder war sie auf natürliche Ursachen zurückzuführen? Cassie setzte sich an ihren Untersuchungstisch und ging ihre Notizen über mögliche andere Ursachen durch. Während der Ausgrabung durch eine Spitzhacke verursacht. Langandauernder Druck eines scharfen Gegenstands im Grab. Erosion. Angeborener Defekt. Syphilitische Reaktion.
    Sie stützte ihren eigenen Kopf in die Hände und begann sich zu fragen, wie ein Wissenschaftler wohl ihr Skelett beurteilen mochte, wenn es in ein paar Millionen Jahren wieder ausgegraben werden würde. Würde er mit seinen Instrumenten ihre angebrochenen, vernarbten, verstümmelten Rippen vermessen? Würde er den Schaden auf achtlose Grabräuber zurückführen? Auf Erosion? Auf ihren Mann?
    Cassie hüllte den Schädel in Watte und legte ihn zurück in die Packkiste. Sie stopfte die Kiste mit Sägespänen und zerknüllten Zeitungen aus, ganz sorgfältig, als könne der Schädel immer noch den Schmerz über den angerichteten Schaden spüren. Ohne einen förmlichen

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