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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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der schlechten Verbindung, die unsicher ihren Namen betete. Ganz schwach vor Erleichterung sank sie zusammen. »Cassie?« wiederholte Will.
    »Ich bin dran«, antwortete sie. Sie zögerte, suchte nach zusammenhängenden Worten.
    »Was hat er getan?« fragte Will in die Stille. »Ich bringe ihn um.«
    »Nein«, widersprach Cassie ruhig. »Das wirst du nicht.«
    In Pine Ridge, direkt neben einem Teenager, der Hafer stapelte, donnerte Will die Faust gegen die Wand. Sie brauchte ihm gar nicht erst zu sagen, daß Alex sie wieder geschlagen hatte. Er wußte, daß die Nummer, die Horace ihm gegeben hatte, nicht die von Cassies Anschluß war. Er war machtlos, tausend Meilen von ihr entfernt, und er wartete darauf, daß sie sagte, was genau sie von ihm wollte. Er verbot sich jede Hoffnung, und er würde sich ihr auf keinen Fall aufdrängen, aber er wußte, wenn sie ihn bitten würde, käme er auf der Stelle angeflogen und würde sie bis an ihr Lebensende verstecken.
    »Ich lasse mich scheiden«, flüsterte Cassie. »Ich gebe gleich eine Pressekonferenz.«
    Will ließ die Stirn gegen die scharfe Kante des Münztelefons sinken. Die Hollywood-Presse würde sie in Fetzen reißen, nur um Alex zu zerstören. »Vergiß es«, hörte er sich sagen. »Komm mit mir nach Tacoma.«
    »Ich kann nicht immer nur weglaufen. Und ich will nicht, daß du mich rettest.« Cassie holte tief Luft. »Ich glaube, es ist höchste Zeit, daß ich mich selbst rette.«
    Aber noch während sie das sagte, begannen ihre Schultern zu beben, und sie sank tiefer in die Sofakissen, als habe sie nicht mehr die Kraft, sich aufrecht zu halten.
    »Cassie, Liebes«, sagte Will sanft. »Warum hast du mich angerufen?«
    Sie zitterte so stark, daß sie glaubte, kein Wort mehr herausbringen zu können. »Weil ich Angst habe«, flüsterte sie. »Ich habe eine solche Scheißangst.«
    Will spielte mit dem Gedanken, ihr zu erklären, daß sie nicht allein war, in ein Flugzeug nach L. A. zu springen und zu ihr zu fahren und sie zu küssen, bis ihr Körper nicht mehr vor Angst zitterte und mit seinem verschmolz. Er fragte sich, wie er so dumm sein konnte, sein Herz an eine Frau zu verschenken, die wahrscheinlich bis an ihr Lebensende einen anderen lieben würde.
    Statt dessen gab er sich alle Mühe, ruhig und deutlich zu sprechen. »Cassie, gibt es irgendwo einen Spiegel in deiner Nähe?«
    Cassie lächelte traurig. »Ophelia hat allein im Flur drei«, antwortete sie.
    »Dann stell dich vor einen.«
    Cassie verzog das Gesicht. »Was soll der Quatsch? Ich brauche jetzt keinen Schauspielunterricht.« Aber sie stand auf, ging zum Spiegel und besah sich ihre verweinten Augen, den blauen Fleck an ihrem Kiefer.
    »Und?«
    »Ich sehe gräßlich aus «, meinte Cassie und rieb sich über Augen und Nase. »Was soll ich denn sehen?«
    »Den tapfersten Menschen, der mir je begegnet ist«, antwortete Will.
    Cassie drückte sich den Hörer fester ans Ohr und wärmte sich an seinen Worten wie eine Katze in der Sonne. Sie mußte daran denken, wie Alex sie kurz nach ihrer Hochzeit öfters im Büro angerufen hatte und sie, wie Teenager, stundenlang hinter verschlossenen Türen über ihre Zukunft, ihre Leidenschaft und ihr unerhörtes Glück, einander gefunden zu haben, geflüstert hatten.
    Cassie starrte das Gesicht im Spiegel an. »Ich war noch nie in Tacoma«, antwortete sie. Mit einem tapferen Lächeln schloß sie Wills Worte in ihr Herz und schöpfte seine Kraft aus ihnen.
    »Wann haben die Mißhandlungen angefangen?«
    »Wußten Sie schon vor der Heirat davon?«
    Die Fragen sammelten sich wie eine Pfütze um Cassies Füße. Hilfesuchend sah sie sich nach Ophelia und Connor um.
    »Lieben Sie ihn immer noch?«
    Darauf brauchte sie nicht zu antworten; das wußte sie. Aber sie wollte antworten. Wenn sie der Welt Alex als eine Art Monster vorführte, dann war es auch an ihr, ihn als den wunderbaren, warmherzigen, fürsorglichen Mann zu zeigen, der ihr das Gefühl gegeben hatte, vollkommen zu sein.
    Am besten, kalkulierte sie, antwortete sie mit einer ironischen Bemerkung, als sei die Frage durch und durch lächerlich. »Das können Sie fast jede Frau in diesem Land fragen«, meinte Cassie leichthin. Aber dann brach ihre Stimme. »Wer liebt ihn nicht?«
    Sie schaute auf und ließ den Blick über die Reihen der Reporter wandern, als würde sie nach jemand Bestimmtem Ausschau halten. Schließlich entdeckte sie den Mann ganz hinten in der Ecke. Sie hatte ihn bis jetzt nicht bemerkt, aber

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