Auf den zweiten Blick
sang, bis dem Mädchen das Haar wieder dicht und schwarz über den Rücken fiel. Sie schenkte der Häuptlingstochter ihre eigenen schönen Kleider und führte sie in Strong Winds Zelt.
Am nächsten Tag heiratete Strong Wind die Häuptlingstochter, und sie wanderte mit ihm über den Himmel und schaute auf ihr Volk hinab. Die beiden Schwestern des Mädchens waren zornig und drohten den Geistern mit erhobener Faust und begehrten zu wissen, was geschehen war. Strong Wind beschloß, sie dafür zu bestrafen, daß sie seiner Braut so viel Leid zugefügt hatten. Er verwandelte sie in Espen und versenkte ihre Wurzeln tief in der Erde. Seit jenem Tag zittern die Blätter der Espen, weil sie sich vor dem Wind fürchten. Wie leise er sich auch nähert, sie beben, weil sie seine große Macht und seinen Zorn nicht vergessen können.
Legende der Algonquin-Indianer
1
Das erste, was der Friedhofsgärtner sah, als er sich um den kleinen Friedhof hinter St. Sebastian kümmern wollte, war die Leiche, die jemand zu begraben vergessen hatte.
Sie lag längs auf einem Grab, den Kopf an den Grabstein gelehnt und die Arme über dem Bauch gekreuzt. Sie war fast so bleich wie die sieben verwitterten Granitsteine um sie herum. Der Friedhofsgärtner atmete tief durch, ließ seinen Spaten fallen und bekreuzigte sich. Er schlich sich an die Leiche heran, beugte sich vor und legte seinen Schatten über sie.
Irgendwo über ihm schrie eine Möwe, und im selben Augenblick schlug die Frau die Augen auf. Der Friedhofsgärtner fuhr herum und rannte durch das eiserne Tor auf die lärmerfüllten Straßen von Los Angeles hinaus.
Die Frau blinzelte in den Himmel. Sie wußte nicht, wo sie war, aber es war ruhig; und da ihr der Schädel dröhnte, war sie dankbar dafür. Sie versuchte sich zu erinnern, wie sie hierher geraten war.
Sie setzte sich auf, betastete den Grabstein und kniff die Augen zusammen, weil die Buchstaben vor ihren Augen tanzten und verschwammen. Sie zog sich langsam hoch und stützte sich auf den Stein, um nicht wieder umzufallen. Dann beugte sie sich vor und würgte, eine Hand auf den Magen gepreßt und mit Tränen in den Augen, als ihr der Schmerz in die Schläfen schoß.
»Eine Kirche«, sagte sie laut. Der Klang ihrer Stimme ließ sie zusammenfahren. »Das ist eine Kirche.«
Sie ging ans Tor und sah Autos und Busse vorbeifahren. Sie hatte schon drei Schritte auf die Straße hinaus gemacht, als sie merkte, daß sie nicht wußte, wohin sie gehen sollte. »Denk nach«, befahl sie sich. Sie legte sich die Hand auf die Stirn und spürte klebriges Blut.
»Himmel«, sagte sie. Ihre Hand zitterte. Sie suchte in ihrer Jackentasche nach einem Taschentuch. Es war eine abgetragene Bomberjacke; sie konnte sich nicht daran erinnern, sie gekauft zu haben. Statt des Taschentuchs förderte sie eine Tube Lippenpomade und zwei Dollar vierundzwanzig Kleingeld zutage. Sie ging zurück in den Friedhof und suchte hinter den Grabsteinen nach einem Notizbuch, einem Rucksack, irgendeinem Hinweis.
»Ich bin überfallen worden«, sagte sie und wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. »Ich bin bestimmt überfallen worden.« Sie lief zum Pfarrhaus und hämmerte mit der Faust gegen die Tür, aber die war verschlossen. Sie kehrte zum Tor zurück. Am besten würde sie zur nächsten Polizeiwache gehen und dort erzählen, was passiert war. Sie würde ihre Adresse angeben, und dann würde sie anrufen…
Wen würde sie anrufen?
Sie starrte auf einen Bus, der an der Haltestelle an der Straßenecke seufzend zum Stehen kam. Sie wußte nicht, wo sie war. Sie wußte nicht, wo die nächste Polizeiwache war.
Sie wußte nicht einmal, wie sie hieß.
Sie begann, auf einem Fingernagel zu kauen, und trat hinter das Tor zurück, wo sie sich sicherer fühlte. Sie kniete neben dem Grab nieder, auf dem sie gelegen hatte, und ließ ihre Stirn gegen den kühlen Grabstein sinken. Vielleicht kam ja der Priester bald zurück, dachte sie. Vielleicht würde jemand vorbeikommen und ihr helfen. Vielleicht sollte sie einfach hierbleiben.
In ihrem Kopf begannen Paukenschläge zu dröhnen, die ihr den Schädel zu spalten drohten. Sie sank zu Boden, lehnte sich wieder an den Grabstein und zog ihre Jacke zu, weil der Boden kalt war.
Sie würde warten.
Sie öffnete die Augen, hoffte auf eine Antwort, aber sie sah nichts als die Wolken, die den Himmel wie Narben überzogen.
Es gab zuwenig Platz in Kalifornien.
Wie ein Hämmern tief in der Kehle spürte er die
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