Auf den zweiten Blick
zusammengekrümmt am Boden lag, und sie begann zu begreifen. Alex hatte seinen Zorn diesmal nicht nur auf Cassie umgelenkt und an ihr ausgelassen – sein Zorn war zum ersten Mal von ihr ausgelöst worden. Von nun an würde ihr Leben eine Kette von lose aneinandergereihten Knoten der Angst bilden. Und ihr Sohn müßte immer wieder mit ansehen, wie Alex sie mißhandelte, und er würde, ohne etwas daran ändern zu können, vielleicht genauso werden wie sein Vater.
Alex konnte, ohne daß er Schuld daran hatte, seine Versprechen einfach nicht halten.
Sie durchquerte das Zimmer, öffnete die Tür und warf einen Blick auf John, der eine Sekunde zu lang auf das Blut starrte, das ihr über die Wange lief. Sie drückte Connors Köpfchen an ihre Brust, so daß er es nicht zu sehen brauchte, aber sie drehte sich noch einmal zu Alex um, der von seinem Elend fast erdrückt zu werden schien. Und so, wie die meisten vertrauten Dinge sich aus einem unvertrauten Blickwinkel ganz neu ordnen, kam ihr Alex nicht länger leidend vor. Sondern nur noch mitleiderregend.
Sie merkte nie, daß er sie weinen hörte. Wenn es in der Vergangenheit dazu gekommen war, hatte sie immer gewartet, bis sie annahm, Alex würde schlafen, dann hatte sie die Tränen ganz leise über ihre Wangen fließen lassen. Sie hatte nie auch nur einen Laut von sich gegeben, aber Alex hatte sie trotzdem gehört.
Er wollte sie berühren, aber jedesmal, wenn er die unendlich weiten zehn Zentimeter überbrücken wollte, die sie trennten, fehlte ihm die Kraft dazu. Schließlich hatte ja er ihr weh getan. Und wenn sie vor ihm zurückzuckte, weil es dennoch immer wieder ein erstes Mal gab, brach es ihm fast das Herz.
»Cassie«, flüsterte er. Schatten drängten sich lauschend im Schlafzimmer. »Sag, daß du nicht wieder weggehst.« Sie antwortete nicht.
Alex schluckte. »Gleich morgen früh gehe ich zu Dr. Pooley. Ich verschiebe den Film. Bei Gott, du weißt, daß ich alles tun würde.«
»Ich weiß.«
Er klammerte sich an die beiden Silben wie an einen Rettungsring, drehte den Kopf ihrer Stimme zu und sah nichts als die silberne Landkarte, die die Tränen auf Cassies Wangen zeichneten. »Ich kann dich nicht gehen lassen.« Seine Stimme brach.
Cassie sah ihn an. Ihre Augen glühten wie die eines Geistes. »Nein«, bestätigte sie ruhig. »Das kannst du nicht.«
Sie schob ihre Hand in seine, verband sich mit ihm. Und erst jetzt ließ Alex seine eigenen Tränen wieder fließen, genauso leise wie Cassie. Er versuchte, Trost darin zu finden, daß er sich mehr haßte, als selbst Cassie ihn hassen konnte. Zur Strafe zählte er sich in den Schlaf und ließ mit jeder Zahl ein weiteres verhärmtes Gesicht vor sich auftauchen - das seines Vaters, seiner Mutter, seiner Frau, seines Sohnes; all jener Menschen, die er enttäuscht hatte.
Diesmal hielt sie sich nicht zurück. Obwohl sie wußte, daß Alex wach neben ihr lag, weinte sie. Es ging nicht nur darum, ihn zu verlassen, wie Alex glaubte. Es ging um ihre Freiheit. Sie konnte Alex verlassen und dennoch niemals frei sein; so wie damals, als sie nach South Dakota gegangen war, um Connor zu bekommen. Um sich wirklich zu lösen, würde Alex genauso leiden müssen wie sie. Er konnte - und würde - sie nicht gehen lassen, solange sie ihn nicht dazu brachte, sie zu hassen. Sie würde genau das tun müssen, was sie ihre ganze Ehe lang so sorgsam vermieden hatte - zu einem jener Menschen werden, die ihn verletzten.
Sie versuchte sich einzureden, daß sie die Trennung erzwingen mußte, wenn ihr wirklich etwas an Alex lag; auf lange Sicht war es für ihn schlimmer, sie als Krücke für seinen Zorn benutzen zu können. Das hieß nicht, daß sie ihn nicht mehr brauchte. Und es hieß ganz bestimmt nicht, daß sie ihn nicht liebte. Alex hatte recht, wenn er behauptete, sie seien füreinander geschaffen. Sie waren es, aber nicht in einem gesunden, normalen Sinn.
Sie mußte daran denken, wie Alex auf Pine Ridge auf der Veranda gestanden und ihr erklärt hatte, sie sei ein Teil von ihm. Sie mußte daran denken, wie er seine Hände über ihre gelegt hatte, als sie in einem eisigen Flüßchen in Colorado ohne Angel Fische gefangen hatten. Sie mußte daran denken, wie sie in der Serengeti neben ihm gesessen und den beiden Löwen zugesehen hatte. Sie mußte an seinen Geschmack und seinen Geruch denken und daran, wie schwer seine Haut auf ihrer lag.
Sie verstand nicht, wie sie jemals an diesen Punkt gelangen konnte, wo sie Alex so sehr liebte,
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