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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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sich dort gefühlt hat. Einmal, zu Besuch in Bielitz, fanden wir ihn am Morgen auf seine Krücken gestützt im Hauseingang, wo er nach einer langen Tarock-Nacht mit seinen Freunden keinen Einlass bei uns gefunden hatte; entweder hatte er nicht geklingelt, oder wir hatten ihn nicht gehört.
    Viel später, als ich eine Fotografie von ihm, dem heißgeliebten Opa, zu Gesicht bekam, durchfuhr es mich wie ein Stich, als ich an seinem Jackenrevers das Parteiabzeichen der NSDAP sah.
     

Frühe Turnübungen
     
    1938, ich war viereinhalb Jahre und lebte, das Hätschelkind meiner Mutter, die mich mit Biskuits (»Bischgoteln« sagte sie) und Bananen verwöhnte, in den »Schwarzen Feldern«, also im Stadtteil Tschernowitz in Brünn. An einem schönen Sommertag, es war Sonntag, ging ich mit meinen Eltern in einem Stadtpark spazieren. Ich war wie alle Leute, ob groß oder klein, sonntäglich fein angezogen, und die Sorge der Eltern bestand darin, dass das wilde Kind sich beim Spaziergang eindrecken oder gar seine Kleidung zerreißen könnte. Hatte ich einen Matrosenanzug an? Ich glaube und hoffe nicht.
    Aber ich habe unterwegs einen ziemlich großen Stein aus dem Weg oder einem Graben neben dem Weg gelöst, ihn aufgehoben und mitgeschleppt. Der Stein war schwer und schmutzig und mein Vater und meine Mutter sagten: »Wirf den Stein weg!« Und als ich ihnen nicht »folgte«, haben sie mir den Stein aus den Händen genommen, natürlich mit der Gewalt Erwachsener, ihn weggeworfen und mich an den Händen weitergezerrt. Ich ließ meine Füße über den Weg schleifen und heulte, während ich mich an den Händen meiner Eltern und dem beidseitigen Zugriff mit zurückgehängtem Oberkörper nur widerstrebend weiterzerren ließ. Schließlich ging ich wieder, meine Eltern ließen mich los und schon war ich ihnen entwischt und rannte zurück, dorthin, wo der Stein lag, hob ihn auf und schleppte ihn weiter.
    Natürlich waren mir meine Mutter und mein Vater auf dem Weg zurück nachgerannt. Sie fingen mich mit dem Stein ein und wanden ihn mir wieder aus den Händen. Nachdem sie ihn wieder weggeworfen hatten, schleppten sie mich wieder zwischen ihren Armen weiter, bis ich nachgab.
    Doch da drehte ich mich wieder um, rannte abermals davon, zurück zu dem Stein. Ich hob ihn auf, meine Eltern, die mich wieder verfolgt hatten, nahmen ihn mir wieder weg, wieder wurde ich abgeschleppt, wieder trotzte ich aus Leibeskräften, machte mich wieder los und rannte wieder zu dem Stein zurück.
    Ich weiß nicht, wie oft sich das Ganze – Stein aufheben, Stein weggenommen bekommen, weggezerrt werden, losreißen, zurücklaufen, Stein aufheben – wiederholte. Jedenfalls endete es mit ein paar Klapsen und meinem Geschrei. Beides war meinen Eltern sichtlich unangenehm, denn es waren viele feiertäglich gekleidete und gestimmte Spaziergänger im Park, die meisten mit viel artigeren Kindern, als ich eins war. Der Sonntag war verdorben, der Spaziergang allemal. Die leichten Schläge, die ich bekommen hatte, taten nicht weh, sie waren eher eine symbolische Strafe, aber für mich in der Öffentlichkeit umso beschämender. »Schau mal! Der ungezogene Junge!«, konnten dann andere Eltern zu ihren Kindern sagen und mit dem Finger auf mich zeigen, während ihre Kinder schadenfroh zu mir schauten.
    Vielleicht erinnere ich mich an diesen Ausflug auch nur deshalb, weil meine Eltern ihn mir auch vor anderen Leuten (Freunden und Verwandten) erzählt haben, immer mit dem leicht bewundernden Unterton für die Eigenwilligkeit ihres kleinen Sohnes – »ein richtiger Dickschädel«, sagte meine Mutter und lächelte mich stolz an, ein »Kluiben-Schädel«.
    Mir gefiel anfangs eine andere Geschichte besser, an die ich mich nur noch dunkel und schemenhaft erinnere: Der Umriss eines winzigen Mädchens und wieder meine Eltern, die mich wegzerren. War es am gleichen sonnigen Nachmittag (manchmal fängt es in meiner Erinnerung dabei auch leicht zu regnen an) oder bei einem anderen Spaziergang. Ich glaube, es war derselbe Nachmittag, weil sich der Trotz mit dem Stein logischer und psychologisch erklärbarer Weise nur aus der gewaltsamen Trennung von einem Menschen, von einem Mädchen ergeben hatte – als Kettenreaktion.
    Jedenfalls hatte ich mich bei dem Spaziergang von meinen Eltern losgerissen, war ihnen zumindest enteilt und auf ein kleines gleichaltriges Mädchen zugestürzt. Die hätte ich umarmt und angefasst – und meine Erinnerung, so vage sie ist, sagt: die habe ich umarmt oder

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