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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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Josephs seligen Zeiten mehr spielte, als wirklich lebte.
    Ich weiß nicht mehr, was ich in diesen ersten Schuljahren am Zennerberg gelernt habe, es wird wohl »Lesen, Schreiben, Rechnen« gewesen sein – obwohl ich mir das Schreiben und Lesen von Druckbuchstaben noch in Wien 1939 selbst beigebracht habe, wie meine Mutter mir immer wieder stolz erzählte. Ich saß in der Nikolsdorfer Straße in unserer Gemeinde-Wohnung (wie sie die Wiener SPÖ nach den Straßenkämpfen der 20er zur sozialen Befriedung in ganz Wien gebaut hatte – sie stehen bis heute) im dritten Stock am Fenster, und gegenüber war eine Druckerei. Deren Name war mit roten Buchstaben DRUCKEREI an der Mauer gegenüber zu lesen, über den Fenstern im zweiten Stock. Ich schrieb ihn ab, wahrscheinlich mit Buntstiften. Es war jene unverwechselbare Wiener Druckschrift, die sich aus den Wiener Werkstätten herleitete und aus Alfred Loos' Kampf gegen das Ornament. Die Buchstaben sind schlank und doch etwas kompakt – man sieht sie so heute noch in ganz Österreich, an Schlachtereien, Ämtern, Krankenhäusern. Und wenn ich sie sehe, ist mir, als käme ich nach Hause – in die Welt, deren (meist rote) Versalien ich als erste Schriftzeichen buchstabiert, abgemalt und gelesen habe. Ein Fetzen von Heimat, die aus dem Gedächtnis wieder aufsteigt, wenn ich ein ähnliches Schriftbild an einem Kaffeehaus sehe.
    Und dann fällt mir gleich auch noch Alfred Polgar ein, der, vertrieben und umhergetrieben (er ist in Zürich begraben), einmal gestanden hat: »Ich lebe überall ein bisschen ungern.« Und über das Wiener Kaffeehaus den schlagenden Satz aller Unbehausten, die ein Zuhause suchen, zitierte: »Was ist das Schöne am Café? Man ist nicht zu Hause und doch nicht an der frischen Luft.«
    So haben auch Buchstaben ihr Zuhause und man nimmt sie mit auf die Reise wie ein inneres Fotoalbum. Ich war mit vier Jahren von Brünn nach Wien gezogen – oder vertrieben worden. Und mit fünfeinhalb von Wien nach Bielitz. Aber eigentlich blieb ich dabei die ganze Zeit in der k. u. k.-Buchstaben- und Gebäudewelt. Überall gab es Laubengänge und überall Cafés, in denen die Bedienungen die gleichen weißen Schürzchen und Häubchen und die gleichen schwarzen Gewänder trugen und die gleichen durchbrochenen hohen Schuhe, aus denen die Zehen und Fersen herausblickten, viel mehr braucht die Phantasie eines kleinen Jungen nicht. Und es gab die Ober in den ein wenig abgewetzten Anzügen, die im Unterschied zu den Kellnerinnen kassieren durften und das immer schwungvoll mit einem Bleistift auf einem Block taten. Und es gab überall das Kaisergelb auf den Amtsgebäuden und Schlössern und die wenigen Bäume auf den trostlos leeren Straßen in der Mittagshitze. Kopfstein, Fiaker, Kutscher und die Fenster der Häuser waren geschnitten wie in Wien am Ring, nur dass sie viele Stockwerke niedriger waren.
    Die Cafés und Restaurants sind heute noch so: in Graz oder Klagenfurt oder Prag oder Brünn. Und als ich im Krieg einmal in Bielitz am Abend in einem Restaurant essen war (ich ein Gulasch, meine Eltern ein Beuschel, dazu ich ein Kracherl und meine Eltern ein Seidel Bier), war es schon genauso: ein bisschen plüschig und ein bisschen verstaubt, und der Ober, der um meinen Vater scharwenzelte, den er als lokale Nazi-Größe sicher kannte, war von einer leicht heruntergekommenen Eleganz, seine dünnen Haare klebten am Kopf, seine Haut war ein wenig grau. Er nahm die Bestellungen mit einem gewissermaßen schmierigen Schwung entgegen; so sollte er später auch schwungvoll die Rechnung mit dem Bleistift auf den Block kritzeln. Er zückte zwischendurch aber, nachdem mein Vater bestellt hatte, mit Schwung und Eleganz eine kleine Nagelschere, zog sie aus der Westentasche. Und schnitt mit ihr mit unnachahmlicher Grandezza die Fleischmarken für das Gulasch und das Beuschel von den Lebensmittelkarten – der Schwung eines Lebensmittelmarken-Figaros.
    Es war Krieg und es herrschte Rationierung. Und vielleicht wollte mein Vater meiner Mutter und mir auch zeigen, dass er, als Verantwortung tragender Nationalsozialist (er war zwar nicht in Uniform, aber trug natürlich das Parteiabzeichen), keine Beziehungen spielen ließ beim Beuschel-Bestellen. Aber so elegant, wie der Ober die 50-Groschen-Märkchen abschnippelte, so elegant habe ich später nie wieder jemanden servieren und bedienen sehen.
     
    Damals musste jeden Morgen, eine Woche lang, ein Schüler zu Beginn des Unterrichts aufstehen, sobald

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