Auf der Flucht
angefasst und bin so mit ihr verharrt und war zum Weiterspazieren nicht zu bewegen gewesen – bis mich meine Eltern an der Hand genommen und weggezerrt hätten.
Eine schöne Geschichte, nicht über einen kindlich kindischen »Dickschädel«, sondern über das frühe Erwachen der Liebe, die »Anziehungskraft des anderen Geschlechts«, ja, so wäre es, hätte die Geschichte nicht einen Haken. Denn meine Eltern, die sie kurz darauf meinen Großeltern, natürlich wieder in meiner Anwesenheit, erzählten, berichteten nicht von »einem kleinen Mädchen«, auf das ich zugerannt sei und von dem ich nicht habe lassen wollen, sondern von einem »kleinen Judenmädchen«. »Stell dir vor, der Hellmuth stürzt sich da auf ein kleines Judenmädchen …« Und das sei ihnen, fügten meine Eltern hinzu, peinlich gewesen. Sie sagten entweder »peinlich« oder »unangenehm«.
Ich maß dem keine besondere Bedeutung zu, eher war es so, dass mich das Wort »Judenmädchen« damals reizte, neugierig machte, das war etwas Exotisches, Fremdes, von dem ich nichts wusste. Vielleicht war es auch so, dass ich dachte, meine Eltern hätten etwas erkannt und ausgemacht, was ich noch nicht zu erkennen in der Lage war. Vielleicht, dachte ich später, ein wenig später, war es meinen Eltern auch deshalb peinlich, dass ich ein Judenmädchen umarmt hatte, weil es auch deren Eltern peinlich war, weil es sich um orthodoxe Juden gehandelt hatte, die es nicht gerne sahen, dass ein katholischer Junge mit ihrer mosaischen Tochter Kontakt aufnahm.
Aber auch dem gab ich nicht viel Bedeutung, und erst viele Jahre später ist mir eingefallen und aufgefallen, dass meine Eltern, die doch gerne viele Geschichten aus meiner Brünner Kindheit erzählten (vielleicht, weil es, wie sich erst nachträglich herausstellte, ihre unbeschwerteste Zeit war, die »glücklichsten Jahre«, wie meine Mutter sagte, nicht ohne hinzuzufügen: »Obwohl – es waren schwere Jahre!«), diese Geschichte von dem »Judenmädchen« nicht mehr erzählten. Sie war weg, sie war vergessen. Vielleicht sollte sie weg sein, weil sie andere, weniger schöne und harmlose Geschichten wachgerufen hätte?
Ich war im Sommer meistens barfuß und genoss es, wenn in Ententeichen oder am Flussufer der schwarze, moddrige Schlamm durch meine Zehen schmatzte. In Einweckgläsern hatte ich Froschlaich, Blutegel, kleine Fische. Regenwürmer, die im scheußlichen Blassrot eiterähnlich aus der feuchten Erde krochen, zerhackte ich und sah mit gruseligem Staunen, wie sich die einzelnen Teile selbständig ringelten, obszön weiterlebten, obwohl ich sie doch vernichtet und zerteilt hatte.
Damals ging ich in die ersten Schulklassen der Volksschule am Zennerberg, in die schon mein Vater gegangen war. Von dem Gebäude weiß ich nichts mehr, nur dass es gegenüber dem Platz lag, an dem die katholische Kirche stand und ein Nonnenhospital, in dem später, 1942, mein Vater lag, nachdem man ihm die Zehenknochen »abgeknipst« hatte, weil er sich in Russland die Füße erfroren hatte, schon schwarz seien die großen Zehen gewesen.
Ich weiß von der Schule und den Lehrern so gut wie nichts mehr, außer dass ein Lehrer ein Bambusstöckchen hatte, das er »Rasierseife« nannte. Wir mussten zu Beginn der Stunde die Hände auf die Tischbänke legen, die Fingerkuppen nach oben, und wenn er dreckige Fingernägel entdeckte, ließ er die »Rasierseife« herabsausen. Eigentlich denke ich ohne Schrecken daran.
Ich erinnere mich auch daran, dass ich von meiner Mutter ein Lied gelernt hatte und es gerne sang:
Einst war ich klein,
Jetzt bin ich groß
Lern lesen, rechnen, schreiben.
Sitz nicht mehr auf der Mutter Schoß
Und mag zu Haus nicht bleiben.
Und in der Schule merk ich auf
Damit ich recht was lerne
Drum hat mich auch,
Ich wette drauf
Der Lehrer schon recht gerne.
Ich sehe das kurze glückliche Einverständnis in den Augen meiner Mutter und wie sie lächelte, wenn ich ihr das Lied vorsang. Und nachträglich möchte ich mir wünschen, dass in dem gehorsam masochistischen Einverständnis mit der Schule auch Ironie im Spiel war. Ironie, obwohl ich damals noch nicht wusste, dass es so etwas gab. Und meine Mutter wahrscheinlich mit dem Begriff »Ironie« damals auch nicht viel hätte anfangen können oder wollen. Sie freute sich einfach, wenn ich sang, dass ich gern in der Schule war, und spürte wohl gleichzeitig, dass ich das Stück als »Nummer« vortrug, den Gehorsam des braven Schulknaben aus Kaiser Franz
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