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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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Vertrag von Trianon mit sich gebracht hatten.
    Dabei schadete meinem Großvater die Tatsache, dass er Deutscher war, bei seiner Ausweisung paradoxerweise überhaupt nicht. Damit arrangierten sich Polen und Deutsche in Schlesien kurzzeitig mehr oder weniger. Nein, gravierender war es, dass Polen und die Tschechoslowakei nach dem Krieg diplomatische bis kriegerische Auseinandersetzungen wegen Grenzgebieten hatten – so dass sie die Bürger des anderen Landes als feindliche Ausländer betrachteten.
    Schlage ich in alten Lexika, die vor dem Ersten Weltkrieg erschienen sind, nach, wer damals in Brünn, meiner Geburtsstadt, gelebt hat, dann tragen die Volkszählungsangaben den Sprach-, Geschlechts- und Religionszugehörigkeiten Rechnung. Brünn also, so entnehme ich dem Brockhaus von 1908, hatte 94462 Einwohner (darunter 45349 männliche und 49113 weibliche), davon waren 61834 Deutsche und 26836 Tschechen. Evangelisch innerhalb einer überwiegend katholischen Bevölkerung (einer Folge der Gegenreformation) waren 1765. Mosaischer Religion waren 6993.
    In Hitlers biologistischer Volkszählung kamen keine Religionen mehr vor, sondern nur noch Rassen. In meiner Kindheit wurde von Juden, Israeliten, Angehörigen des mosaischen Glaubens nicht mehr gesprochen. Sie fanden, jedenfalls vor meinen kindlichen Ohren, keine Erwähnung, auch nicht geflüstert oder beiseite gesprochen. Und was die Religion betraf, so traten meine Eltern im Krieg aus der katholischen Kirche aus und nannten sich fortan »gottgläubig«, denn das war eine so gut wie offizielle Konfession » Großdeutschlands“ – ein Name für ein neues Heidentum.
    In den Straßen gab es noch Gebäude, die früher Judenschulen gewesen waren und auch noch so hießen, und leere, verwaiste, teils zerstörte Synagogen, und es gab noch eine »Judengasse«. In der Schule sagten die Lehrer noch, wenn wir laut waren, es gehe zu »wie in der Judenschule«.
    Ich habe erst Jahre später davon erfahren, dass 1940 sowohl Veit Harlans Film »Jud Süß« als auch Fritz Hipplers Propaganda-Machwerk »Der ewige Jude!« in die deutschen Kinos kamen, für mich als Kind waren sie verschlossen, ich habe auch nie Erwachsene sich darüber unterhalten hören. Nachträglich erscheint mir das gespenstisch; Bielitz war die Kreisstadt des Kreises, in dem Auschwitz lag, ein Ort, der zum Symbol des Genozids an den Juden werden sollte, und ich habe weder den Rauch der Krematorien gerochen noch etwas davon geahnt, was an Sklavenarbeit keine zwanzig Kilometer entfernt von mir vorging.
    Und ich habe keine Minute gebraucht, um zu Fuß als Kind an die Bialka zu kommen, hinter der Galizien begann, das Galizien, von dem ich später erfuhr, dass es das Herzstück, die Landschaft des chassidischen Judentums, gewesen ist. Ich ahnte nichts davon, dass ich, wenn ich Kaulquappen aus dem Ufer grub, nach Osten über einen Fluss blickte, hinter dem sich zur gleichen Zeit die schrecklichsten Untaten der »Endlösung« abspielten. Nichts drang zu mir, kein einziger Laut, kein Seufzer, kein Schrei, kein Schuss. Nichts.
    Während Billy Wilder und ich nach 1986 an seiner Biographie arbeiteten, habe ich mich besonders für seinen Geburtsort in Galizien interessiert. Wilder, 1906 in Sucha in Galizien geboren, war der Sohn eines Gastwirts, der ein Café in Krakau betrieb und Restaurants entlang der Eisenbahnen durch Galizien hatte (eine Bahn, in der Leutnant Trotta in Joseph Roths »Radetzkymarsch« siebzehn Stunden braucht, um von Wien in die letzte östliche Garnisonstadt der Monarchie zu kommen). 1914, als der Weltkrieg ausbrach, war Wilder im heißen Sommer in den Schulferien bei seiner Großmutter in Sucha und schaukelte im abgedunkelten Zimmer in ihrem Thonet-Schaukelstuhl. Dann musste er vor den Russen flüchten.
     
    Als mein Großvater 1928 nach Brünn umziehen musste, war das wohl nach der schweren Invalidität der zweite Schlag, der seine Lebensspannkraft traf, jedenfalls spricht die Tatsache, dass er in einer Einzimmerwohnung lebte, dafür. Er hat allerdings noch einen spektakulären Umbau des Café Opera vorgenommen: Indem er die Deckenlast auf vier Stützen bei einem Treppenaufgang verlagerte, schuf er aus mehreren kleineren Räumen einen durchgehenden großen Raum im Stil der neuen Sachlichkeit – großzügig, hell, unverschnörkelt, die Lampen in die Decke versenkt.
    Dann, zum Kriegsausbruch, kam er als Brückenbauer zur Reichsautobahn nach Breslau, also ins preußische Schlesien. Ich kann nur ahnen, wie er

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