Auf der Flucht
der Lehrer eintrat, und nach dem »Heil Hitler!« einen Wochenspruch aufsagen. Einmal war einer dran, der musste den Gorch-Fock-Spruch aufsagen. Ich erinnere mich nicht mehr an das Gesicht, wohl aber an den Tonfall des Jungen, der diesen Spruch eine Woche lang jeden Morgen aufsagte. Und an den Tonfall erinnere ich mich, weil der Junge Pole war, zu Hause sprach er das, was wir Wasserpolackisch nannten, ein Deutsch mit vielen polnischen Wörtern und polnischer Aussprache. Seine Eltern hatten sich über die Volksliste das Deutschsein erworben, sicher nicht, weil der Vater in den Krieg wollte, sicher wegen besserer Lebensmittelkarten und damit der Sohn auf die Schule durfte. Und so höre ich ihn bis heute das Wort »gelingen« sagen, auf der Vorsilbe betont, dass es sich fast wie Göttingen oder Gerlingen anhört. Aber eigentlich erinnere ich mich an diesen Jungen und sein »Gelingen« wegen der Aufklärung. Aufklärung, hat Kant gesagt, sei die Herausführung des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Ich war unmündig, aber ich war es durch Alter und nicht durch Selbstverschuldung. Nach der Schulstunde ging ich mit einem Mitschüler auf die Toilette. Die Zennerberg-Schule hatte ein primitives Pissoir im Schulhof mit einer geteerten Pappe als Rückwand, es hatte keine Wasserspülung und daher einen beißenden Geruch. Wir unterhielten uns über das »Gelingen«, aber unvermittelt wechselte mein Klassenkamerad das Thema. »Kennst du schon den neuesten Wochenspruch?«, fragte er, während er seinen Hosenschlitz (»Hosenkaffer« hieß das in Bielitz) schloss: »Fünf Minuten, drei Tropfen, neun Monate, ein Kind.«
Ich blickte ihn fassungslos an. Hätte mir schon mein späterer Jargon zur Verfügung gestanden, hätte ich gesagt: »Ich verstehe nur Bahnhof.« Aber er hat mich dann auch so aufgeklärt, an diesem scharf ätzend riechenden Ort, mit diesem dummen Spruch, mit dieser Milchmädchenrechnung.
Man kann sich Stunde, Art und Ort der Aufklärung nicht aussuchen.
Ich war von dem neuen Wissen so bewegt, dass ich auf dem Heimweg meinen besten Freund, er hieß Erik Hlawa, sofort auch aufklärte. In Sonne und frischer Luft. Erik lebte allein bei der Großmutter, die Mutter arbeitete, einen Vater gab es nicht.
Dann trennten sich unsere Wege, und ich sah keinen Anlass, zu Hause von dem großen Wissensschub zu berichten, den ich erfahren und gleich weitervermittelt hatte. Am Nachmittag, es schien wie gesagt eine warme schöne Sonne, setzte ich mich auf eine Parkbank vis-à-vis von unserem Haus in der Dr.-Joseph-Goebbels-Straße. Ich hatte ein Buch bei mir, deutsche Heldensagen mit bräunlichen Bildern von Siegfried, Krimhild, Hagen, Roland und Gudrun.
Plötzlich, die Sonne schien, ich las, stürzte Erik Hlawas Großmutter mit wütenden Armbewegungen auf mich zu: »Liest du wieder ein Doktorbuch?«, schrie sie und war sichtlich enttäuscht, dass ihre Entrüstung in den deutschen Heldensagen keine nackten, noch dazu eventuell aufklappbaren Menschen zweierlei Geschlechts vorfand.
Doktorbuch – hier war das Stichwort gefallen. Ich kannte damals noch keine »Doktorbücher«, aber von nun an wusste ich, dass Bücher, dass das Lesen einen geheimen Zweck hat. Denn das Buch appelliert nicht nur an die Phantasie, sondern an die sexuelle Phantasie, die mangels Erfahrung und Gelegenheit lange Phantasie bleibt, notgedrungen, aber nicht unbedingt zum Nachteil. Karl Kraus hat diesen Vorsprung der Phantasie auf die Formel gebracht: »Der Beischlaf hält nicht, was die Onanie verspricht.« Dem möchte man weder zustimmen noch widersprechen – es ist nur eben ein Satz aus der Welt der Kopfgeburten und Bücher.
Was die Onanie anlangt, so habe ich viel später, in meinem Meyer-Lexikon von 1905, nur noch eine relativ abgeschwächte Rückenmarksschwindsucht-Drohung gefunden – es war ein liberales Lexikon.
Aber von jenen Tagen an war die Beschäftigung mit Büchern auch eine Reise in das Land verbotener, zumindest unterdrückter Phantasien, die sich nur um so flammender von Papier nährten, je weniger ihnen die Wirklichkeit Nahrung bot.
Es waren die Borgias, jene liebliche Papstfamilie, in der jeder jeden liebte, der Vater die Tochter, der Bruder die Schwester, die damals in Romanform für Aufregung sorgten. Das Buch hieß bezeichnenderweise »Die Stiere von Rom« und stand in dem väterlichen Bücherregal hinten, versteckt.
Es ist erstaunlich, wie pamphletartige Aufklärungsliteratur gegen die Übermacht der katholischen
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