Auf der Flucht
Sitten und Bräuche in der »verlorenen Heimat« an, die »Sammlung Karasek«. Er und seine Frau lebten unter kärglichen Umständen in Berchtesgaden. Sie sagten, weil es nahe der österreichischen Grenze sei und meine Tante in Österreich noch Besitzansprüche habe. Ich hatte damals, also in den fünfziger Jahren, ohnehin das sicher nicht unberechtigte Gefühl, dass im Berchtesgadener Land und im Salzkammergut besonders viele ehemalige Nazis lebten, vor allem auch viele »Sudetendeutsche«. Es war eben eine nostalgische Gegend, und mein Onkel hatte auch noch einen Schäferhund, was zumindest eine grobe Geschmacklosigkeit war. Später, nach dem Tod des Onkels, hat mir irgendwer auch noch erzählt, der Hund sei mit Hitlers »Blondie« verwandt.
Dieser Onkel war ein Mann von lebhaftem Geist und Witz, ein großartiger Erzähler, und er hat sich voller Begeisterung den neuen amerikanischen Idealen der Demokratie in die Arme geworfen. Ich glaube, er hoffte mitten im Kalten Krieg auch darauf, dass die Amerikaner eines Tages mit der Sowjetunion abrechnen würden. Es war die Zeit, in der plumpere Naturen, als mein Onkel eine war, sagten, die Amerikaner hätten in Bezug auf die Sowjetunion längst eingesehen, »dass sie das falsche Schwein geschlachtet hätten«.
1928, die Geschäfte meines Großvaters in Bielitz florierten, sein Sohn Walter, mein Vater, ging in die »Bude«, die Tischlerei im Baugeschäft des Großvaters, hobeln, hämmern, sägen und wurde im Winter mit einer Staffel Beskiden-Meister im Langlauf. Er hatte schon meine Mutter kennen gelernt, die, zur Handelskorrespondentin ausgebildet, als kaufmännische Korrespondentin arbeitete. Die beiden hatten sich beim Eislaufen im Winter ineinander verliebt. Meine Mutter trug schwere dunkelbraune Zöpfe.
1941 dann lag ihr abgeschnittener Jungmädchenzopf in einer Schublade der Psyche im Schlafzimmer. Offenbar war das Zopfabschneiden ein Ritual, mit dem sich junge Frauen von ihrem Mädchenleben verabschiedeten, ich weiß, mit welcher Wehmut meine Mutter sich den Zopf ansah, ihn mir oder anderen zeigte, so als wäre mit dem Abschneiden des langen Haares alle Sorglosigkeit und Unbekümmertheit dahin, die Jugend vorbei gewesen.
Danach trug sie, wie Ende der Zwanziger, Anfang der Dreißiger üblich, einen Bubikopf, sie hatte eine Lockenschere zu Hause, ging zum Ondulieren zum Friseur und ich durfte mit und sog den Geruch nach frisch gewaschenem und verbranntem Frauenhaar begierig ein. Als ich selbst zum ersten Mal mit etwa vier Jahren in Brünn zum Haareschneiden auf dem Friseurstuhl saß, schrie ich wie am Spieß. Nicht wegen des Verlusts der Haare, nein, weil mich der Friseur, um mich vor dem Haareschneiden in gute Laune zu versetzen, mit dem Drehstuhl wild in kreisende Bewegung versetzt hatte. Ich geriet in Panik, ich war eben ein Feigling.
In der gleichen Zeit nahm mich mein Vater in seinen Sportclub mit, wo er mich wohl stolz seinen Sportkameraden präsentieren wollte. Er setzte mich zum Knieaufschwung hoch aufs Reck, ließ mich los und ich fing wie wild zu schreien an. Alle starrten mich an, lachten, mein Vater hob mich vom Reck und hat mich von da an nie wieder zum Sport mitgenommen. Den Zopf meiner Mutter haben wir auf der überhasteten Flucht natürlich nicht mitgenommen. Er war so etwas wie ein Beweis dafür, dass wir, wie wir als Flüchtlinge nach 1945 nicht müde wurden zu versichern, »alles verloren« hatten.
1928 heiratete meine Tante Lotte, die ältere Schwester meines Vaters. Sie heiratete einen Ingenieur, Joseph Hartmann, einen Bielitzer Jugendfreund und inzwischen Vertreter einer Maschinenfabrik in Bukarest. Und sie brauchte Papiere für die Hochzeit und für Bukarest. Mein Großvater musste also zu den polnischen Behörden und die entdeckten etwas: dass nämlich mein Großvater aus Brünn stammte und nicht aus Bielitz und also jetzt eigentlich Tscheche und nicht Pole war. Und so wiesen sie ihn aus, und wenn ich meinen Eltern glauben darf, haben sie ihn dabei auch enteignet.
So ist er mit Frau und Kindern nach Brünn gezogen, wo er hergekommen war. Und meine Mutter ist meinem Vater nach Brünn gefolgt. Die beiden haben 1930 dort geheiratet.
Die Ausweisung meiner Großeltern (die meisten der Freunde blieben als Tuchfabrikenbesitzer, Kaufleute, Lehrer in Bielitz) war natürlich eine Folge der Minderheiten-, Volksgruppen-, und Nationalitäten-Probleme, die die Auflösung Österreichs nach dem verlorenen Weltkrieg, der Versailler Vertrag und der
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