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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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meist ostasiatisch. In Wahrheit waren es Brechts Bettelmönche wie Palitzsch, die schneller als wir einen Porsche fuhren. Und – in aller asketischen Strenge – mit ihren Schauspielerinnen nach streng sozialistischen Gesichtspunkten schliefen: erst mit den strengen Muttertieren à la Mutter Courage oder Gorkis Mutter, dann mit immer jüngeren Modellen, die die Shen Te, die Grusche aus dem »Kaukasischen Kreidekreis« oder die heilige Johanna der Schlachthöfe spielten.
    Palitzsch, ein schlanker, ja dünner Asket mit scharfer Brille und sächsischem Akzent, arbeitete als Regisseur, als Dramaturg à la Brecht, der jede Szene nach »Dialektik« oder V-Effekt aufschlüsselte (Liebe kam auf der Bühne nur als Widerspiegelung der kapitalistischen Warenwelt vor), und als Choreograf, der mit seiner schwarzen Silhouette und den strengen Bewegungen seiner langen Arme seine Schauspieler wie Linien durch das karge Bühnenbild Gerd Richters zog. Da er sozusagen auf dem dritten Bildungsweg (von Bitterfeld zu Brecht) zum Theater gekommen war, hatte er ungeheures Pech im Gebrauch von Fremdwörtern, die er liebte, aber entweder falsch gebrauchte oder falsch aussprach: Er sagte, »intrigieren«, wenn er »integrieren« meinte, »Kotau« und »Kothurn« verwechselte er ständig, indem er sagte, er wolle die griechischen Stücke nicht auf hohem Kotau inszenieren; auch zwischen »skeptisch« und »septisch« kannte er keinen Unterschied. Statt von »Rezensionen« sprach er von »Rezessionen«. Mir fiel im Zusammenhang mit Palitzsch immer Lichtenberg ein, der in den Sudelbüchern geschrieben hatte, jemand sei so hoch gebildet, dass er immer »Agamemnon« statt »angenommen« las, Palitzsch las immer »angenommen« statt »Agamemnon«. Mein Stellvertreter, Dr. Rückle, ein sechzigjähriger lebensfroher Schwabe, verachtete den Brecht-Schüler dafür. Und wenn ich Palitzsch bewundernd verteidigte, sagte er zu mir, das rühre von meiner unterwürfigen Flüchtlingsmentalität her: »Den stecken Sie in die Tasche, wenn Sie nur wollen«, sagte er. Palitzsch hätte gesagt: Der ist für Sie kein Konkurs! Und gemeint: keine Konkurrenz.
    Dr. Rückle versuchte mich von den ideologischen Debatten höchst solide und gebildet abzubringen, indem er mir die erotischen Vorzüge der Ballett-Mädchen anpries. Ich war damals schon geschieden. Er lebte mit einer sympathischen fünfzigjährigen Verlagsleiterin zusammen. Die Beziehung ging auseinander, als seine Lebensgefährtin ihn, der immer dämonisch freundlich mit den dritten Zähnen grinste, auf dem Sonnendach ihrer Ferienbaracke mit unserer Dramaturgie-Assistentin erwischte, wie sie es nackt in der Sonne trieben. Die Assistentin war einundzwanzig, hatte einen Schnurrbart, war liebenswürdig und mollig und hatte sich gerade mit einem anderen gleichaltrigen blassen Dramaturgen verlobt – ja das tat man damals noch. Jetzt heiratete sie Dr. Rückle. Die beiden wurden sehr glücklich.
    Am Abend des 22. November 1963 aber saßen Peter Palitzsch, Martin Walser und ich im Restaurant des Württembergischen Landtags bei herrlich goldgelb und fettig glänzendem Kartoffelsalat und einem schwäbischen Zwiebelrostbraten mit Ackersalat, als plötzlich der Lautsprecher zu rauschen begann. Wir hatten einen langen Probentag hinter uns. In Walsers Stück »Überlebensgroß Herr Krott« spielte Hans Mahnke die urzeitliche Figur des müden, aber unsterblichen Kapitalisten, der bewegungslos in den Bergen dem Untergang entgegendämmert, neben ihm seine Frau (Mila Kopp) und seine Schwägerin Edith Heerdgen. Für die Rolle des Kellners hatten wir Hanns Ernst Jäger als Gast gewonnen. Das gewichtige Parabelstück war also so gut besetzt, wie es in der damaligen deutschen Theaterszene nicht besser ging. Selbst die kabarettistischen Dialoge (»die sexuelle Not der Tiere in der Großstadt schreit zum Himmel«) sprachen diese Schauspieler, in einer fahlen Endspiel-Landschaft liegend, mit einer Kraft, die auch für Shakespeares Königsdramen gereicht hätte. Wir waren in den Endproben. Und jetzt dieser Lautsprecher.
    Nie zuvor hatten wir abends in dem Restaurant eine Ansage gehört. Lautsprecher waren im Landtag, einem nach außen bräunlich spiegelnden kubischen Glasbau, wohl dazu gedacht, während der Pausen von Landtagssitzungen die Abgeordneten von Kaffee und Kuchen wieder in den Plenarsaal zu rufen. Jetzt, spät am Abend, verkündete der Lautsprecher, der amerikanische Präsident sei bei einem Attentat in Dallas/Texas im

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