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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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und für meine Bedürfnisse herrichtete; durch den großen Büroraum zog er eine Art Pappwand, um auf diese Weise ein kleines Schlafzimmer abzutrennen, das an die Nachbarwohnung grenzte. Die Fenster waren halb unter die Erde versenkt, die Wohnung war düster und wir hatten mit den Nachbarn, die mit ihrem Schlafzimmer an unseres stießen, dauernd Ärger, weil mein Sohn schlecht schlief oder ich und meine Frau sich lautstark stritten. Oder weil die Nachbarskinder schlecht schliefen und die Nachbarn sich lärmend auseinander setzten, bevor der Mann die Frau und die Familie verließ. Vorher hatte er mir einige Male aufgelauert und mir Prügel angedroht. Wir fühlten uns terrorisiert, und nachdem wir in Hitchcocks Film »Psycho« waren, bekamen wir in unserem Bad mit dem winzigen Klappfenster zwischen Zimmer und kleiner als Büro gedach ter Küche klaustrophobische Anwandlungen.
    Wenn wir ins Kino gingen, kamen wir mit der letzten Straßenbahn zurück und gingen durch das schwach erleuchtete Dunkel zu unserem Haus, das wie tot in der Siedlung lag. Meine Frau hatte in dem kleinen Wohnzimmer ein Klavier stehen, das sie aber kaum benützte. Und ein Radio, ein Braunradio mit Plattenspieler, den »Schneewittchensarg«. Daraus hörten wir Charles Aznavours »Du lässt dich geh'n« (»Tu t' laisses aller«), ein melancholisches Chanson, das der armenisch-französische Sänger auch auf Deutsch sang, um das Scheitern einer Ehe im Gewöhnlichen zu beschreiben. »Du bist so komisch anzusehn / denkst du vielleicht, das find ich schön?« Und: »Du läufst im Morgenrock herum / ziehst dich zum Essen nicht mal um, dein Haar / da baumeln kreuz und quer / die Lockenwickler hin und her«. Oder: »Mit deinen unbedeckten Knien / wenn deine Strümpfe Wasser zieh'n.« Oder gar: »Nur dein Geschwätz so leer und dumm / ich habe Angst, das bringt mich um.« Und immer der Refrain: »Du lässt dich geh'n, du lässt dich geh'n.« Während sich mir die traurige Wahrheit des Liedes sofort erschloss, obwohl sich Marbella keineswegs, was ihr Äußeres betraf, gehen ließ, rätselte ich über den Sinn der Zeile »Wenn deine Strümpfe Wasser ziehn« nach.
    Ich spielte das Lied unserem Musikkritiker Carl Dahlhaus (der später, als Professor in Berlin, die Richard-Wagner-Gesamtausgabe betreute) vor, als er uns mit seiner Frau besuchte. Auch die Dahlhausens waren Außenseiter in Stuttgart, das verband, so dass wir uns gelegentlich zu einer Flasche Wein, Salzbrezeln, Käsewürfeln auf Zahnstochern und Erdnüssen besuchten. Und ich sagte ihm, dass ein solcher Schlager auch den Geist der Zeit enthülle. Er kicherte zustimmend, wir sahen uns kurz an, unsere Frauen, dann aber war er wieder schnell bei Adorno oder bei Heinz Hilpert, bei dem er in Göttingen als Dramaturg gearbeitet hatte. Er war ein Freund von Joachim Kaiser aus dessen Göttinger Studientagen, Kaiser hatte ihn Melchinger empfohlen. Da er aber ein strikter Musikkritiker mit einem blau rasierten Asketengesicht war, der sich, wie fast alle Musikkritiker, mit dem Publikum über die Opernpraxis oder den Bach-Stil des Kammerorchesters von Münchinger überwarf, überlebte er Melchingers Weggang nicht lange und wurde in Berlin Professor für Musikwissenschaften an der TU.
    Ich erinnere mich noch ganz genau, wie ich eines Tages in die Redaktion kam und ihm, der wie wir alle Brechtianer war, nach einer Aufführung des »Guten Menschen von Sezuan« in Ulm sagte, es sei für mich schwierig, gerade diese Aufführung zu besprechen. Und noch ehe ich Gründe für meine Schwierigkeiten angeführt hatte, unterbrach er mich und sagte zu mir: »Wissen Sie, was mein Freund Jochen Kaiser mir einmal in einem ähnlichen Fall geraten hat? Er hat mir gesagt: ›Dann machen Sie doch die Schwierigkeiten, die sie damit haben, zu Ihrem Thema!‹« Diesen Rat habe ich im Laufe vieler Jahre oft weitergegeben. Auch weil er mir geholfen hat.
    Damals, in Rohr, musste er sich nach Aznavour lateinamerikanische Schnulzen anhören, »Luchas Gáticas« oder »Malaguena« von dem Trio Los Paraguaios, die meine Frau ihm vorspielte. Das Ehepaar Dahlhaus duldete und genoss es heiter, und wir unterhielten uns wieder über Hilpert, über Gründgens, über das deutsche Theater und deutsche Musiker während der Nazizeit. Furtwängler zum Beispiel wurde von Dahlhaus heftig verteidigt. Und auf dem Plattenspieler des Schneewittchensargs lagen nach den Rumbas von Perez Prado Beethoven-Symphonien, dirigiert von Furtwängler. Wir hörten das laut.

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