Auf der Flucht
Bis mein kleiner Sohn wach wurde. Oder die Nachbarn böse mit dem Besen gegen die Wand klopften. Carl Dahlhaus und ich rauchten an solchen Abenden Kette. Unsere Frauen auch. Und wenn wir uns trennten, war der Aschenbecher gehäuft voll mit Kippen, obwohl ich ihn manchmal zwischendurch in den Mülleimer ausgeleert hatte. Es entwickelte sich eine regelrechte Aschenbecherkultur; durch Druck und Drehen wurden Kippen und Asche unter eine Metallklappe befördert – bis sie klemmte.
Außer Zigaretten leisteten wir uns fast nichts im Überfluss. Am Wochenende hatten wir oft nur das Geld, das wir vom Supermarkt in Rohr für die zurückgebrachten Pfandflaschen bekamen. Aber wir hatten einen Babysitter. Sie hieß Hanni, hatte blond gefärbte, stahlartig toupierte Haare und trug einen atemberaubend kurzen Rock, noch keinen Mini-Rock. Wenn meine Frau sah, wie ich (ich dachte: unauffällig) die Beine von Hanni anstarrte und mit Blicken abtastete, bekam sie schlechte Laune. Mit seinem »Psycho«-Film hatte es Hitchcock irgendwie geschafft, dass dem katholisch schlechten Gewissen einer verdruckten Zeit der hygienische Mord unter der Dusche, der das Blut gleich gurgelnd wegspült, wie eine Strafe für eine Sünde erschien. Ich ging zum ersten Mal mit meinem Sohn ins Vaihinger Schwimmbad und weiß noch heute, wie ich über die vielen Fettbäuche der Männer erschrak. Zu Hause spielte ich meiner oft depressiv schlecht gelaunten Frau und mir in weinseliger Melancholie Aznavours »Du lässt dich geh'n« vor. Dass sie mich, die ich sie damals oft allein ließ, oft betrog und dass ich sie, oft unterwegs, hinterging, wussten wir erst später und haben es uns zu Recht und zu Unrecht übel genommen und achselzuckend oder liebend, auch lautstark und nach handfesten Auseinandersetzungen, verziehen.
Ehen in Philippsburg
Am 22. November 1963, am späten Abend, saßen wir zu dritt im Landtagsrestaurant schräg gegenüber der Stuttgar ter Oper am Ende des Schlossgartens, der kurz vor dem wieder aufgebauten Stuttgarter Schloss in einem Kunstteich endete, in dessen flachem Wasser tagsüber stolze Väter die ferngesteuerten Boote ihrer Söhne bedienten. Im Schlossgarten vor dem Opernhaus ruhte damals noch ein Stuttgarter Kulturereignis: die »Liegende« von Henry Moore, eine der plumpen, schweren Frauenskulpturen des Künstlers, die mit ihrem massigen Körper und kleinen Kopf ein Frauenbild aus der Zeit der Echsen und Saurier zu transportieren schien; mit klassizistischer Schönheit jedenfalls hatte sie nichts gemein, weshalb sie bald darauf in einen weniger öffentlichen Innenhof verbannt wurde. Damals regte sich der schwäbische Bürgersinn vor allem wegen der staatlichen Kulturförderung für dieses kolossale weibliche Urgetüm auf (»Was des koschtet!«, hieß ein Stoß seufzer der stets kostenbewussten schwäbischen Volks seele). Oder, ironisch: »Wannscht die siescht, woischt du ers c ht, was mir für ein Glump daheim hent.« Es war keine frauenfreundliche Zeit.
Wir, zu dritt, das hieß Peter Palitzsch, der Regisseur und Brecht-Schüler, der nach dem Mauerbau im Westen geblieben war, so tat, als wäre das wider seinen Willen geschehen, und wohl auch daran glaubte, er erzählte uns Westlern, Martin Walser und mir, mit wohligem Schauder (auch über seine welthistorische Bedeutung), dass Manfred Weckwerth, Gralshüter am Theater am Schiffbauerdamm, ihm angekündigt habe, er, Peter Palitzsch, würde, falls in Bälde der Sozialismus in Deutschland gesiegt haben werde, im BE von einer spontanen Volksjustiz und einem sozialistischen Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und entweder öffentlich füsiliert oder guillotiniert werden. Palitzsch malte sich das stolz-tragisch aus – er hatte wohl Büchners »Dantons Tod« im Hinterkopf.
Er gehörte zu jener bewunderten Theater-Spezies der »Brecht-Schüler« – zu der auch Egon Monk zählte –, die, obwohl abtrünnig vom DDR-Glauben, wie versprengte Reste eines ästhetisch-politischen Mönchsordens im kapitalistisch hedonistischen Westen wirkten und Theaterbekehrungen missionierend betrieben. Sie blickten wie strenge Asketen, meist schwarz gewandet mit schwarzem Rollkragenpulli oder schwarzer Brecht-Bluse mit Mao-Stehkragen auf uns schwatzsüchtige, genussfreudig unruhige Westler herab – wir waren für sie von der Fraktion »buy now – pay later«. Alle diese Brecht-Fratres im Westen hatten einen Pony-Haarschnitt, der ihr fransiges Haar glatt in die Stirn hängen ließ, und sie lächelten
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