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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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offenen Wagen angeschossen worden und kurz darauf im Krankenhaus seinen Verletzungen erlegen.
    Wenn ich mich recht erinnere, hat es eine Weile gedauert, bis sich die Meldung in ihrer ganzen Schwere in unseren Köpfen durchsetzte. Wir saßen wie gelähmt. Weil Kennedy bei einem Wiener Gipfel von dem ungeschlachten Kreml-Boss Chruschtschow das Fürchten gelernt, dann in der Frage des Raketentransports nach Kuba die Welt in Atem gehalten hatte, die nie so nah vor einem dritten Weltkrieg, der atomaren Katastrophe stand, weil Kennedy in Berlin seinen berühmten Satz, Balsam auf die Seele der in geteilten Staaten und der in der geteilten Stadt lebenden Deutschen, »Ich bin ein Berliner« gesagt hatte, war die Bestürzung hier besonders groß. Kennedy verkörperte auch die deutschen Hoffnungen und so fing Deutschland spontan zu trauern an. Und während wir noch wie paralysiert dasaßen, verließen Zuschauer das Opernhaus, ein stummer Menschenstrom: Der künstlerische Betriebsdirektor schickte die Opernbesucher nach Hause, die Vorstellung war abgebrochen worden
    Wir sahen Menschen durch die Nacht durch den dunklen Park nach Hause, zu den Bahnen und Parkplätzen streben, mit eingezogenen Schultern, und Walser sagte, während aus dem Lautsprecher Einzelheiten des Attentats in Dallas sickerten, stumpf: »In unserem Stück wird eine Wäscherin von Herrn Krott erschossen.« »Ja«, sagte ich, »und das soll auch noch komisch wirken.« Herr Krott, der in den Bergen brachliegende Kapitalist, erschießt, weil er auf dem Liegestuhl plaidbedeckt auf sein Lieblingsvergnügen, die Jagd, nicht verzichten will, eine Wäscherin, die der Alte, fast blind geworden, für einen Vogel hält. Und Walsers Text spottet in einer »Romeo und Julia«-Persiflage: »Es war die Wäscherin und nicht die Nachtigall!«
    Wir drei blickten uns in düsterer Erkenntnis an. Das Weltereignis hatte sich auf einmal, wie uns dumpf klar wurde, in eine Theaterkatastrophe für uns verwandelt. Wir können jetzt nicht eine Wäscherin abknallen lassen, dachten wir. Das geht nach Dallas nicht. Niemand will im Augenblick darüber lachen, dass auf der Bühne jemand erschossen wird, und sei es auch nur zum Spaß. Wir waren entsetzt. Ausgerechnet unsere Premiere hatte der Attentäter von Dallas hingerichtet, hingemeuchelt.
    Wir haben die Premiere von »Überlebensgroß Herr Krott« dann um vierzehn Tage verschoben: für die Menschheit ein winziger Schritt, für das Theater damals eine kleine Katastrophe, für die Geschichte nicht einmal die Fußnote zu einer Fußnote.
    Vergessen, dass die Wäscherin vierzehn Tage später den Theatertod durch Hans Mahnkes Flinte starb. Im Sommer zuvor hatte uns – Peter Palitzsch und mir – Martin Walser ein anderes Stück vorgelesen – die »Zimmerschlacht«, keine Parabel über einen Kapitalisten, sondern eine Ehekomödie, die ein trauriges Paar lustig entlarvt.
    Wir waren zu Martin Walser gefahren, der am Bodensee, damals noch in Friedrichshafen, lebte – in einem alten, schönen, eher düsteren Haus mit einem großen Garten, den ich als leicht verwildert in Erinnerung habe.
    Walser verfügte über einen Charme, den er laut und offensiv zu gewaltigen Umarmungen einsetzte – nicht taktisch, er verfügte von Natur aus über eine erotische Lebensstrategie, die aus dem ursprünglich wohl eher verklemmten, verschüchterten Gastwirtjungen herausgebrochen war und ihn so zwanghaft alles, was ihm in die Quere kam, erobern ließ. Männer als Freunde, Diener seines Werks als Vermehrer seines Ruhms, Frauen, nun ja, als Objekte einer übersteigerten Libido, wie wir sie alle hatten, die aus dem Korsett der fünfziger Jahre auszubrechen suchten.
    Walsers Ausbruchsdrang muss besonders groß gewesen sein; er war im Krieg als Halbwaise bei einer gewiss strengen Mutter aufgewachsen – vom Kohletragen für ihre Kohlenhandlung hatte er gewaltige Pranken und zog Bauarbeiter beim Fingerhakeln über den Tisch –, und er hatte seine erste Jugendliebe geheiratet. Sie führten eine katholische Ehe am Bodensee, hatten bald mehrere Töchter, und seine Romane (»Ehen in Philippsburg«, »Halbzeit«) handeln davon, wie er immer wieder von zu Haus ausbricht, wie das schlechte Gewissen ihm die Treppen als kaputtes, zerschepperndes Kinderspielzeug hinterherläuft. Sein Alter Ego ist in »Halbzeit« ein Vertreter, was denn sonst in den fünfziger Jahren?, und Martin Walser war bei Lesungen, bei Diskussionen, bei Theaterproben der Vertreter eines neuen Lebensgefühls,

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