Auf der Flucht
nannte), und als mich Hans Werner Richter erblickte und streng fragte, ob ich eine Einladung habe, und ich herumstotterte »Nein!«, war Walser natürlich irgendwo anders – jedenfalls spurlos verschwunden. Auf Jagd nach Wäscherinnen. Ohne Flinte. Oder er war auch nur mit Uwe Johnson in einer Kneipe. Jedenfalls flog ich an diesem Abend hochkant aus der Lesung – und fuhr betrübt und gedemütigt zurück nach Stuttgart, mitten in der Nacht, mit irgendeinem blöden Bummelzug, der auf irgendeinem Bahnhof endete, ehe ich in aller grauen Herrgottsfrühe weiter- und zurückkonnte.
Später hat Uwe Johnson Walser große Vorwürfe gemacht, weil er mich im Stich gelassen habe im Saulgau. Aber auch das war ein Stellvertreterkrieg, der nur die beiden betraf.
War ich mit Walser befreundet? Wenn zwei gleich gesinnte Egomanen das sein können, sicher. Er wurde der Taufpate meines zweiten Sohnes Manuel und meine Frau ist in einem seiner Romane bis zur Kenntlichkeit ihrer exotischen Ausstrahlung vertreten. Die schönste gemeinsame Zeit erlebten wir in Middlebury in Vermont, als wir gleichzeitig im Sommer 1973 am College unterrichteten. Wir genossen den unwahrscheinlich schönen Ostküstensommer in dem grünen Land mit seinen weißen Kirchen und weißen Bauernhöfen, den roten Scheunen, in denen Studentenkneipen eingerichtet waren, die Freiheit jener Jahre, die von braun gebrannten Hippies und jungen Motorradfahrern und ihren Motorradbräuten (»Easy Rider«) umlagerten Drugstores. Tagtäglich spielten wir Tennis gegeneinander und natürlich hat es Walser fertig gebracht, mich am letzten Tag beim letzten Match zu besiegen, so dass ich als Geschlagener wieder heimfuhr nach Europa.
Einmal, bei einem Sommerfest in der Mensa, tanzte er so wild mit einer aus Lettland stammenden amerikanischen Studentin – sie hatte ein breites, slawisches Bauerngesicht mit knubbeliger Nase –, dass die beiden stürzten und gegen 2 Uhr nachts in ein Krankenhaus gebracht werden mussten. Ich wartete mit ein paar anderen auf sie bis zum Morgengrauen in einem living room der schönen alten College dorms und als sie kamen, beide mit eingegipsten Gliedmaßen, er den Arm, sie ein Bein, sahen wir sie durch den Morgennebel den Hügel emporsteigen; Renate, so hieß sie, humpelte an einer Krücke, Walser hatte auch einen Verband um die Stirn. Es sah aus wie eine Szene aus einem Katastrophenfilm – Apokalypse now –, während sie, ein einsames geschlagenes Paar, im Nebel den Hügel hochgehinkt kamen.
Später, mit dem »Literarischen Quartett«, kühlte sich die Beziehung zwischen Walser und mir ab, obwohl er mir am Anfang noch in ein Buch schrieb, dass er mir danke, wie ich ihn »gegen den Schwall« (gemeint war Reich-Ranicki) in einer Sendung verteidigt hätte. Einmal im »Quartett« entlud sich diese Dauerfehde zwischen Reich-Ranicki und Walser mit einem Donnergrollen. Die Sendung wurde in einer gewittrig schwülen Augustnacht vom ORF-Studio Salzburg »live« übertragen.
Wir besprachen Walsers neues Buch, ich glaube, es war die »Verteidigung der Kindheit«, und saßen unter der hohen Kuppel, die wegen der feuchtschwülen, drückenden Hitze leicht geöffnet war.
Reich-Ranicki legte, nachdem ich das Buch vorgestellt hatte, heftig los. Er argumentierte, wie immer, wenn ihm etwas nicht gefiel, mit leidenschaftlicher Lautstärke, wobei er seine Rede mit wegwerfenden Armbewegungen begleitete. Plötzlich, mitten in einen langen Satz hinein, entlud sich über der Kuppel ein Gewitter; ein gewaltiges Donnern und drohendes Nachgrollen war zu hören. Reich blickte auf, drehte die Augen hinter seinen dicken Gläsern nach oben, unterbrach sich und sagte in den Donner hinein, die Arme zum Himmel erhoben: »Man wird doch noch was gegen Walser sagen dürfen!«
Jahre zuvor, im Sommer 1963 also, fuhren Peter Palitzsch und ich von Stuttgart nach Friedrichshafen zu Walser; in Palitzschs Auto, damals noch ein Karmann-Ghia. Ich hatte noch kein Auto und noch nicht mal einen Führerschein, wohl aber einen Parkplatz mit dem Schild »Chefdramaturg«, von meinem Vorgänger, Jörg Wehmeyer, übernom men.
Als Wehmeyer ging und mir sein Büro und seinen Parkplatz und seine Sekretärin, die großartige Frau Pfeifer mit dem zum strengen Knoten zusammengefassten Haar, ihrer schwäbischen Akkuratesse und nüchternen Gescheitheit, hinterlassen hatte, die erste der vielen tüchtigen und mich mit erstaunlichem Verständnis ertragenden Sekretärinnen, die mir mein Leben erleichtert,
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