Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
Vom Netzwerk:
Kindheit waren die der nationalistischen Expansionen und (wie ich heute weiß) historischen Revisionen. Landkarten – was »maßstabsgerecht« wirklich bedeutet, habe ich erst viel später durch Swifts Gulliver gelernt – waren für mich Symbole, symbolische Dokumente des Patriotismus, der in meiner Kindheit chauvinistisch überschäumte, was das Kind nur auf Landkarten bemerkte.
    Als ich 1942 acht Jahre alt war, wurde mir in der Schule auf riesigen Karten das Großdeutsche Reich in seiner größten Machtausdehnung vor Augen geführt. Ich sollte stolz sein, als Deutschland während des Vormarsches in Russland von Narvik über Dänemark und Großdeutschland bis nach Griechenland und Nordafrika reichte, im Westen bis zum Atlantik, im Osten bis zur Krim, bis zur Wolga.
    Als danach der Krieg verloren ging, Deutschland immer »kleiner« wurde, bis sich die Rote Armee und die Alliierten bei Torgau an der Elbe begegneten, wurde uns im »Jungvolk« und auf der »Napola« das Engerwerden des »Reichs« lange als »Frontbegradigung« verschwiegen, konkrete Landkarten sahen wir nicht mehr. Und ich weiß noch, wie wir voller Spott als knapp Zehnjährige ein Lied über die Italiener sangen, als ob es uns nichts anginge: »Wir sind die tapfern Italiener / Unser Land wird immer kleener / Sizilien hat man uns genommen / Rom wird auch bald drankommen!« Solche unsinnigen Zeilen kleben bis heute in meinem Gedächtnis. Und obwohl ich sie mit meiner Vernunft wegdrücken kann – sie sind da, sosehr ich weiß, dass wir damals bereits die lächerlichsten Liliputaner waren.
    Hier macht meine kartografische Erinnerung einen Sprung – in die Zeit, als es wieder deutsche Staaten gab und also auch politische Landkarten. Als ich nach 1952 in der Bundesrepublik lebte, hingen in den Zügen der Bundesbahn Landkarten, die Deutschland in den Grenzen von 1938 zeigten – also vor »München«. Das sah man immerhin damals auch in der politischen Geographie ein: Was danach kam, der »Anschluss« Österreichs, die Annektion des »Sudetenlandes«, die Schaffung des »Protektorats« und des »Generalgouvernements«, die Rückeingliederung Danzigs, des »Warthegaus«, die Wiedereroberung Elsass-Lothringens – das war, selbst für das damals nationalste Gemüt, »revanchistisch«. So weit – das wollte man zugeben – hatte man den Krieg verloren. Jetzt, da ich das schreibe, hat die deutsche Politik noch immer viel mit den Ansprüchen im Osten zu tun – trotz Europa.
    Damals also, in den fünfziger Jahren, waren die Landkarten so gezeichnet, dass auf ihnen Deutschland »dreigeteilt« erschien. Es gab die »ehem. deutschen Ostgebiete«, die »unter polnischer« oder »sowjetischer Verwaltung« standen – bis zum »Friedensvertrag« – also, wie jeder sich ausrechnen konnte, bis zum St. Nimmerleinstag, oder – noch schlimmer – bis der Kalte Krieg in einen neuen heißen Krieg mündete. Es gab die SBZ, die sowjetische Besatzungszone, und eben die Bundesrepublik, zu der 1953 das »Saarland« »heim«kehrte. Überall standen trotzige, wie man offiziell fand und zu finden hatte, »revanchistische« Plakate: »Deutschland dreigeteilt? Niemals!« Darauf eine schmerzhaft in Schwarz-Rot-Gold zerrissene Landkarte. Meine Geschwister, die in Frankfurt-Niederrath als SDS-ler und Anarchisten lebten, hatten das damals auf parodistischen Plakaten mit Wonne zitiert: »Rath – dreigeteilt? Niemals!“ Der Vorort teilte sich in Oberrath und Niederrath und Rath.
    Patriotismus war etwas Verdrucktes, Trotziges, wie es sich bei Brecht in einer Geschichte von Herrn Keuner niederschlug, die »Vaterlandsliebe, der Hass gegen Vaterländer« heißt. Da zwingt ein Offizier in einem »besetzten Land« einen Bürger, vom Bürgersteig herunterzugehen: »Herr Keuner ging herunter und nahm an sich wahr, und zwar nicht nur gegen diesen Mann, sondern besonders gegen das Land, dem dieser Mann angehörte, also dass er wünschte, er möchte vom Erdboden vertilgt werden.«
    Wenn man weiß, dass Brecht – österreichischer Staatsbürger – auf der Fahrt von Berlin nach Buckow jedes Mal seine Schreibmaschine den sowjetischen Besatzungstruppen zeigen und sie ihnen gegenüber mit einer Bescheinigung rechtfertigen musste, weiß man auch, was die Keuner-Geschichte alles enthielt.
    Für Deutschland, das damals die politisch Korrekten immer öfter BRD zu nennen sich angewöhnten, galt damals die Formel vom »wirtschaftlichen Riesen« und »politischen Zwerg«, die ich als ganz beruhigend

Weitere Kostenlose Bücher