Auf der Flucht
unter Bäumen und neben Rotkäppchen-Fresskörben.
In Middlebury gab es, abgelegen und nur auf einer schmalen Autostraße zu erreichen, in den Holzhäusern von Breadloaf ein Kino, das für alle Studenten Filme vorführte, Filme, die »in« waren, Kultstatus hatten. Der Film, der damals den wohl höchsten Kultgrad besaß, war »Casablanca«. Jeder Student konnte den Film mitsprechen, jeder das Pianobar-Stück aller Pianobar-Stücke – »As Time Goes by“ – mitsingen. Das Kino, mitten in der nächtlichen Einsamkeit, voller Achtzehn- bis Zwanzigjähriger, war ein romantischer Spuk. Von Zeit zu Zeit flogen Fledermäuse durch den Kamera-Lichtstrahl, die Einrichtung stammte, verstaubt und ehrwürdig, aus der Zeit, da David Frost hier gelebt und gedichtet hatte.
Ich sah den Michael-Curtis-Film von 1942 nicht zum ersten Mal, aber ich sah ihn zum ersten Mal im Land der Sieger, wie ich fand, unter den Augen der Sieger, und als das Kino aus war, ging ich schnell und ohne mich von irgendjemandem zu verabschieden, den nächtlichen Berg hinunter zu meinem »Dorm« auf dem Campus. Mir fiel ein, dass ich in Tübingen als Student ein Seminar über Casablanca gemacht hatte, über den Geist von Casablanca. Hier, vor der Maghreb-Küste Nordafrikas, hatten sich Churchill und Roosevelt auf dem Höhepunkt von Hitlers Kriegsmacht und seiner geografischen Eroberungen getroffen, um ihre Entschlossenheit zu demonstrieren, so lange zu kämpfen, bis das Regime des Nationalsozialismus besiegt wäre – ein langer, dornenreicher Weg lag zwischen 1942 und 1945, eben ein Weg von »Blut, Schweiß und Tränen«, wie es Churchill seiner englischen Nation schonungslos gesagt hatte. Hier waren alle Brücken zu Verhandlungen abgebrochen worden.
Der Hollywood-Film, voll von schmissigem, nachempfundenem De-Gaulle-Patriotismus gegen das Nazi-beherrschte Vichy-Frankreich Petains, verdankt seinen Kult natürlich dem heroisch verzichtenden Traumpaar Humphrey Bogart und Ingrid Bergman, denen die Begeisterung der jungen Nachkriegsgeneration für eine existenzialistische Haltung galt. Woody Allen hatte es noch in seiner bewunderten Parodie ebenfalls zu einem Kultstatus gebracht und mit »Play it again, Sam!« von 1972 die Casablanca-Begeisterung neu angefacht; es war die Begeisterung über einen Kulthelden, der ein so heroischer Liebhaber ist, dass er auf die große Liebe sogar verzichten kann. Der Film feiert die patriotische Entsagung, die man in den USA längst auch in den ironischen Anführungszeichen der 68er genoss.
Ich aber hatte den Film als Deutscher, unter den Siegern von Casablanca, mit einem Gefühl von Schuld und Scham gesehen. Neben der knapp zwanzigjährigen Studentin Judie K. zu sitzen und die wirkungsvollste Szene mitreißender Resistance-Propaganda zu sehen und zu hören, das war für mich, hätte ich es auf einen papierenen Begriff gebracht, ein Erlebnis jener wohl von Theodor Heuss so benannten »Kollektivscham«. Es ist die Szene, in der in »Rick's Café« die deutschen Offiziere die »Wacht am Rhein« singen und von den französischen Soldaten schließlich mit der Marseillaise an die Wand gesungen, in einem Sängerkrieg besiegt werden.
Ich wusste, dass ich den Film in meinen Studentenjahren »gekürzt« gesehen hatte. Aus Rücksicht auf die Gefühle der Besiegten hatte der Verleih ausgerechnet diese Szene drastisch geschnitten. Und mir fiel ein, dass Augstein später in einem Interview erklärt hatte, dass er bei dieser Szene jedes Mal unweigerlich weinen müsse.
Als ich Judie am nächsten Tag begegnete, in der Mensa, wo die »Hamburger« damals noch unter »Salisbury Steak« firmierten (zu Deutsch Hackbraten und »Falscher Hase«), fragte sie mich, warum ich denn nicht, wie alle anderen und wie ich sonst auch, noch auf ein Bier mit den Studenten ins »Mr. Up's« gekommen sei. Ich sagte, ich hätte mich nach dem Film ein wenig geniert, als Deutscher, du verstehst … Sie sah mich mit großen Augen an, bevor sie begriff, was ich meinte, denn dieser jungen Amerikanerin war nichts so fremd und unverständlich wie meine Skrupel.
»… die Gefühle bleiben sich gleich und werden im Alter
noch heftiger, weil sie keine rechte Erwiderung finden!
Das ist grad als wie einer, der einen Hering isst und
nix z'trinken kriegt.«
Nestroy
Lebenserwartung
Anfang der 8 0 er Jahre des letzten Jahrhunderts – mein Gott, klingt das lange her! – belebte das damals noch existierende Magazin der FAZ ein altes Gesellschaftsspiel
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