Auf der Flucht
Für mindestens vier, wenn nicht acht Jahre! Und dann: wer weiß?) zum Chefredakteur bestimmt hatte, gefragt, was sie tun sollten; Augstein verschrecke hier die Politiker, die zum Interview kämen: Huch! Da sitzt er ja persönlich! Und Gaus habe Augstein angerufen und ihm gesagt, er müsse sich da raushalten! »Wir sind unabhängig, aber du bist jetzt Politiker! In der Regierung!«
Aber, so Gaus, das sei nur die Hälfte der Tragödie gewesen. Und gleichzeitig die Luke zum Ausstieg, also Augsteins Fluchtchance von einem verlorenen Posten. Denn zur gleichen Zeit, als Augstein die Lektion lernen musste, dass sein Freund Genscher nicht einmal die Macht oder auch nur den Willen besäße, ihn zum außenpolitischen Sprecher der Fraktion zu machen (er blieb, wie Gaus sich ausdrückte, »Schütze Arsch« in Bonn), habe Brandt ihm, Gaus, eines der wichtigsten Ämter der Regierung angeboten, eines, das es bisher noch nicht gegeben habe. Eines, das am empfindlichsten, am neuralgischen Punkt der Weltpolitik angesiedelt gewesen sei, an dem Punkt zwischen Kaltem Krieg und Koexistenz.
Natürlich nutzte Augstein diese Gelegenheit, um auf dem radikalsten kürzesten Wege Bonn wieder zu verlassen. Er ging zurück zum »Spiegel«. Als dessen Alleinherrscher. Ein Ausflug, eine Flucht war zu Ende. Der Traum, Politiker zu werden, war ausgeträumt.
Als mir Günter Gaus das erzählte, fiel mir ein, mit welcher Lust, Akribie und Leidenschaft sich der zurückgekehrte Augstein danach mit den Großen der Politik beschäftigte: Bismarck, das war der Lieblingsstoff von nun an, und Henry Kissinger wurde zum bewunderten Freund. Wo er kein Macher der Geschichte war, wollte er Geschichtsschreiber werden.
Wenn Rudolf Augstein andere beneidete, hat er sie »Glückspilz« genannt. Als meine Tochter auf die Welt kam (und er gerade geschieden war), hat er mich aus dem zwölften Stock des »Spiegel« im siebten Stock des »Spiegel« angerufen und mir ein Gedicht rezitiert, eine Zeile habe ich noch im Gedächtnis: »Du Glückspilz hast für zwei gefunden!«
Er, der einem anderen gratuliert, weil der ein Glückspilz ist? Wenn ich darüber nachdenke, komme ich zu dem Schluss, dass Rudolf Augstein das Pech im Glück hatte, zu früh alles erreicht zu haben, was man durch Glück, Chance und Verdienst erreichen kann. Er war der verfrühte Glückspilz. Und also schien er während eines großen Teils seines Lebens nicht mehr mit sich zufrieden zu sein. Er konnte sich nicht mehr genügen. Aber warum wollte er Politiker werden, wo er doch schon Rudolf Augstein war?
Und der Tragödie zweiter Teil? Der Komödie zweiter Teil? Der ereignete sich für Günter Gaus, als ein Spion namens Guillaume seinen Kanzler stürzte. Als Brandt als Kanzler gehen musste und Helmut Schmidt kam. Danach ging, allmählich und kaum merkbar, auch die neue Ostpolitik zu Ende. Der Nato-Doppelbeschluss, die Gründung von Solidarno œæ in Polen, Gorbatschows Glasnost-Politik veränderten die Welt. Nicht mehr Wandel durch Annäherung, sondern Wandel durch Auflösung lautete die Devise der Nach-Brandt-Zeit, für die der neue SPD-Kanzler Helmut Schmidt bestens gerüstet, bestens zeitlich vorbereitet war.
Als ich mich mit Günter Gaus im »Sorriso« traf, war die Einheit Deutschlands eine Realität, ein Fait accompli, und es war nicht entscheidend, ob sie, wie von Kanzler Kohl versprochen, im Osten »blühende Landschaften« hervorgebracht hatte, ob, wie Willy Brandt es sich gewünscht hatte, »zusammengewachsen war, was zusammengehört«, und auch die Tatsache, dass Gaus ein Gegner der Wiedervereinigung war, spielte keine Rolle. So sah ich auch keinen Grund, ihn über den Widerspruch zu befragen, der zwischen seiner bewundernden Liebe zu Willy Brandt und dessen »patriotischer« Entscheidung, die Einheit mit dem Herzen zu wollen, bestand.
Die Einheit war da, Berlin war Hauptstadt, wir beide arbeiteten hier und es war die Kraft des Faktischen, die mich wieder ruhig gemacht hatte. Jetzt versuchte ich nicht zu denen zu gehören, die »nachtarocken« wollten, obwohl ich noch wusste, wie es mich während des Wiedervereinigungsprozesses zu hyperventilierenden Reaktionen getrieben hatte, wenn sich die bedächtigen, moralische Bedenken vortragenden Gegner der Wiedervereinigung gegen den sich als unaufhaltsam erweisenden Prozess stemmten. Wie groß war meine Wut, als der Chefredakteur des »Spiegel«, Böhme, wie mir schien, bräsig in einem Leitartikel verkündete, er wolle nicht wiedervereinigt
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