Auf der Flucht
werden; er nicht, klar!, dachte ich damals und hatte einen dicken Hals; das sind diejenigen, die es sich eingerichtet haben im neuen deutschen Biedermeier, das sich, nach einer Theorie von Habermas, mit dem Begriff des »Verfassungspatriotismus« dekorierte.
Bei vielen linken Intellektuellen und dem Gros der Schriftsteller lief damals im Gefühl immer noch das »Wandel durch Annäherung«-Programm. Dass Schmidt als Kanzler auf den Nato-Doppelbeschluss setzte, hat ihm damals den Zorn der »Mutlangen«-Demonstranten eingebracht – und das Vertrauen seiner SPD gekostet. Man wollte die Koexistenz, auch die zweier deutscher Staaten, und wenn beispielsweise der Pen-Präsident Walter Jens und der seit dem Kurs der Regierung Schmidt wieder einmal aus der SPD protestierend ausgetretene Günter Grass dies mit äußerster Verve vertraten, dann spielte das gewiss eine Rolle. Sie sahen das Gleichgewicht, das seit der »Helsinki-Konferenz« bestand, in Gefahr. Und dass sie einen Sieg des Kapitalismus über den Sozialismus wünschen konnten, war unwahrscheinlich – sosehr sie den »real existierenden Sozialismus« verachteten, und weiter von einem »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« zu träumen schienen – die Hoffnung stirbt zuletzt, die Utopie noch später. Und in der Tat: Das Leben in den nach-utopischen Jahren war und ist von einem grauen Schleier getrübt, der weder Morgenröte noch Abendröte durchlässt.
So färbten sie sich die dahinschwindende DDR schön, in Gedanken und Reisereportagen – zum Beispiel in der »Zeit«. Und auf Tagungen und Kongressen wurden potemkinsche Dörfer gebaut. Und ihre Luftschloss-Architekten wie Jens und Grass, die auf solchen Veranstaltungen auch mit Drittweltländern und gegen die Palästinenser-Unterdrückung großes moralisches Gewicht hatten, mochten wohl auch spüren, dass ihre Vermittlerrollen nach einer Vereinigung weniger gebraucht, ja dass sie sogar weniger gehört würden.
Ich erinnere mich, wie ich in der »Spiegel«-Redaktion der einzige Ressortleiter war, der sich lauthals für die Wiedervereinigung einsetzte. Ich geriet unter den Soupçon, mich damit nur bei Augstein beliebt machen zu wollen – der die Redaktion in der Mehrheit als fast vorbehaltloser Einheitsbefürworter gegen sich hatte; aber er war der Boss. Dabei hatten Augstein und ich uns damals spontan über Fernsehereignisse wie die Montagsdemonstrationen oder den Marsch der DDR-Intellektuellen zum Brandenburger Tor verständigt: »Hast du das gesehen?« »Schalte rasch das Erste ein!« »Unglaublich! Oder?« Als er mit Günter Grass eine Fernsehdiskussion führte, hat er, Augstein der Realist, schon geschwächt durch Alter und Krankheit, Grass dann doch das einzig entscheidende Argument vorgehalten, das die Geschichte kennt: »Der Zug ist abgefahren!«
Ich selbst habe mich beim »Spiegel« einmal mit einem polemischen Essay in die Debatte eingemischt – ich wollte gegen einen griesgrämigen Otto Schily argumentieren, der, befragt, warum die Parteien, die für die Wiedervereinigung waren, die ersten freien Wahlen in der (sich danach auch deshalb auflösenden) DDR gewonnen hätten, eine Banane in die Fernseh-Kamera hielt. Wäre eine Banane damals nicht das beste Argument gewesen – frei nach dem Motto meines französischen Lieblingskönigs, Heinrichs IV., den ich vor allem durch Heinrich Mann kenne, der erklärt hatte, höchstes Ziel der Staatskunst sei es, dafür zu sorgen, dass jeder Untertan am Sonntag ein Huhn im Topf habe.
Für mich, in den Hungerjahren aufgewachsen, war dies auch in den Jahren, wo in der deutschen Gesellschaft Diät und Fettleibigkeit größere Probleme darstellten, die Quintessenz aller Argumente. Man muss das »Huhn im Topf« nur neu definieren: Es kann die Form einer Banane annehmen, es kann das Recht auf freie Wahl des Wohnortes oder: freie Fahrt überallhin, oder: Reisen nach Paris und New York sein. Auf jeden Fall definiert es materielle Bedürfnisse, die ewige Sucht und Sehnsucht der Menschen, sich wohl zu fühlen, satt zu werden, nach ihrem Glück zu streben. Mit anderen Worten: Freiheit.
Otto Schily weiß das inzwischen. Auch sein idealistischer Zynismus ist in die realistischen Jahre gekommen. Das Sprichwort ist nur so wahr: Alter schützt vor Torheit. Manchmal.
Was den eitel ehrenkäsigen Günter Grass betraf, der der Einheit einen ziemlich verunglückten Roman – das »Weite Feld« – gewidmet hatte, so äußerte der, die Wiedervereinigung für Deutschland verbiete sich
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