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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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gleiche Modellgröße – habe ich 1967 meinem Sohn Daniel zu Weihnachten geschenkt, der sie später seinem Bruder Manuel Mitte der siebziger Jahre schenkte. Von dem wiederum bekam sie 1993 mein Sohn Nicolas. Sie alle haben eigentlich nie mehr als ein paar Tage zwischen Heilig Abend und Silvester mit der Bahn gespielt. Jetzt verstaubt sie im Keller.
     

Januar 1940
     
    Einmal, im Januar oder Februar 1940, ich war gerade sechs Jahre alt, haben mich meine Eltern am Abend alleine zu Hause gelassen. Wir waren kurz vorher von Wien nach Bielitz umgezogen. Das heißt, mein Vater war vorausgeeilt, Hitlers siegreichen Polenfeldzug-Truppen hinterher, zurück zu seinem Geburtsort, zurück in seine Heimatstadt, die er 1928 mit seinen Eltern nach Brünn verlassen hatte. Er traf dort seine Jugendfreunde wieder, allesamt ehemalige »Wandervögel« und von Volksdeutschen Ideen so beseelt und angetrieben, dass sie sich mit patriotischer Begeisterung, aber auch von Karriere-Gedanken beflügelt, der NSDAP in die Arme warfen. Sie wollten dabei sein; wer, wenn nicht sie, sollte Oberschlesien »national« und »völkisch« erneuern. Bielitz war eine deutsche Sprachinsel; Österreichisch-Schlesien, nun, da Österreich als »Ostmark« heim ins Reich gekehrt war, wurde zu einem deutschen Gau. Und im Kreis Bielitz half mein Vater bei der »Gleichschaltung«.
     
    Meine Mutter, mein Bruder, der ein Baby war, und ich waren meinem Vater, sobald er eine Wohnung gefunden hatte, aus Wien nach Bielitz gefolgt. Nachträglich denke ich, dass es auch eine Flucht aus den Verhältnissen in Wien war, wo wir auf engem Raum mit dem Bruder meines Vaters seit T938 nach der Flucht aus Brünn gelebt hatten. Mein Vater war auch beruflich aus der Bahn geworfen worden, nachdem er während der so genannten »Sudetenkrise« aus Brünn geflohen und vor der Einberufung zum tschechischen Militär desertiert war. Allerdings aus einer beruflichen Bahn, die ihm keine großen Aussichten eröffnet hatte. Er war Verkäufer in dem Brünner Sportgeschäft Balony Baumann gewesen. Und in Wien hatte er wieder in einem, wenn auch kleineren, Sportgeschäft gearbeitet – allerdings hatte sich dessen Besitzerin in den Kopf gesetzt, ihn auch als Lebenspartner zu gewinnen. Was ihn zumindest schwanken ließ. Natürlich hätte er im Ernst seine Frau, die mich hatte und wieder schwanger war, nie verlassen, wir wären, »im Stich gelassen«, zu Grunde gegangen. Und mein Vater war zwar ein weicher, aber sehr verantwortungsbewusster Familienmensch, der es allerdings in der Familie nicht aushalten konnte. Da er weder rauchte noch trank, floh er auch nicht in Kneipen, sondern flüchtete in Liebschaften und liebte Eisdielen.
    Aber nun war der Krieg da, der Krieg und der Sieg. Zumindest über Polen. Mein Vater hatte eine Perspektive; er war Kreisorganisationsleiter der NSDAP in Bielitz, der zweite Mann nach dem Kreisleiter. Und der Kreisleiter war sein Jugendfreund »Joschi« Lanz. Beide waren sie im Beskiden-Verein gewesen, beide waren sie hervorragende Skifahrer und Bergwanderer und mein Vater besaß einen Zeitungsausschnitt, den er gerne zeigte: Er hatte nach einem Gewitter in den Bergen Touristen aus der Lebensgefahr befreit.
    Jetzt also war ich in Bielitz, wo ich niemanden kannte, wir wohnten noch in einer kleinen Wohnung im dritten Stock des Hauses in der Dr.-Joseph-Goebbels-Straße 42, und es gab noch so gut wie keine Möbel, mein kleines Kinderzimmer, eher eine Kammer, war bis auf das Bett leer, es roch nach frischer Farbe. Die Birne an der Decke war nackt, hell, kalt, auf dem Holzboden lagen verstreut einige Spielsachen, zwischen die ich mich kauerte und ein Buch in die Hand nahm, um es mir anzuschauen – als Schutz und Trost gegen ein sich nicht artikulierendes Gefühl des Alleinseins, des Alleingelassenseins in der Stille.
    Ehe ich das Bilderbuch aufschlug, betrachtete ich – zum ersten Mal? Oder zum ersten Mal genau? – den Buchdeckel. Da saß ein Junge allein vor einem Haus, vor ihm ein Himmel, blau, weiße Wolken, drei, vier pechschwarze Silhouetten von Vögeln, vor ihm eine grüne Wiese, wohl auch ein Teich, von ähnlichem Blau wie der Himmel.
    Aber das war nicht das Entscheidende. Denn der Junge hielt ein Buch in den Händen, das auf seinem Schoß lag. Und das Buch war zugeschlagen und auf seinem Deckel saß der gleiche Junge vor einem Haus, vor ihm ein Himmel, blau, zwischen weißen Wolken sah man die pechschwarzen Silhouetten von Vögeln, vor ihm eine Wiese, ein Teich.

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