Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
Vom Netzwerk:
Und auch dieser Junge hielt ein Buch in den Händen, auf dem man gerade noch erkennen konnte, dass auf dem Buch wiederum ein Junge zwischen dem Blau von Himmel und Teich und dem Grün der Wiese saß, der ein winziges Buch in den Händen hielt, von dem man vielleicht noch ahnte, dass auf ihm wieder ein Junge mit Buch saß … und so weiter und so fort bis ins Unendliche.
    Ich habe das Bilderbuch, das ich in der Hand hielt, selber ein Kind in einem weißen leeren Raum, dann gar nicht mehr aufgeschlagen. Ich habe vielmehr beim Betrachten des Deckblatts das Gefühl für die Zeit verloren, die Angst, nein, nicht die Angst, eher die Angst vor der Angst; es war wie ein Sog, der mich in eine räumlich endlose Welt zog, eigentlich so unheimlich wie ein gurgelnder Abfluss in einer Badewanne, deren Wasser sich in das Nichts eines schwarzen Lochs entleert, aber in Wahrheit auch heimelig, und ich war mir nicht sicher, ob ich, hätte ich meinen Blick nicht in Richtung Buch und Unendlichkeit verloren, hätte ich also über mich hinausschauen können, hätte mich überschauen können, ob ich dann nicht mich selbst als Kind mit einem Buch in der Hand hätte sehen können, vor einem Haus, unter einem blauen Himmel, an einer Wiese und an einem Teich …
    Viele Jahre später, als ich Freuds »Unbehagen in der Kultur« las und dort auf das seltsame Wort vom »ozeanischen Gefühl« stieß, habe ich mich erstmals schlagartig an die Szene erinnert: »Ozeanisches Gefühl«, das war es, was ich als Kind mit dem Buch in der Hand erfahren hatte. Und, dass es zwischen den scharfen, schneidenden Kanten der Welt und der Angst etwas gibt, was Schutz und Rettung gewährt. Natürlich habe ich das nicht gedacht, weder in Worten noch in fassbaren Begriffen. Und ein ähnlich ozeanisches Gefühl spürte ich, wenn ich die Oberschenkel fest zusammenpresste. Dieses Pressen im Dunkeln steigerte zuerst die Angst und ließ sie dann verschwinden. Sie löste sich auf, verschwebte. Dass es dabei um das Zusammenpressen des Glieds ging, das wusste der vorpubertäre Sechsjährige gewiss noch nicht.
    Die Angstträume, die dem vorausgingen und aus denen ich aufwachte, bestanden aus farbigen Schlieren und Blasen, amorphen Gebilden, die bedrohlich ihre Form verwandelten. In einer Kriegswelt, die auch einem Kind alle konkreten Schreckensbilder in den Traum hätte drücken können, träumte ich »abstrakt«, auch wenn ich das Wort noch nicht kannte. Weder von Hexen und Teufeln träumte ich, noch von Soldaten, Toten, Bomben und Granaten; nein, von Schlieren und stumm blubbernden Blasen, die mich schweißgebadet aus dem Schlaf hochfahren ließen.
    An das Erlebnis mit dem Buch, meine erste Flucht in die Welt der Phantasie, jedenfalls die erste erinnerte, ließen sich auch zwei praktische Fragen knüpfen. Die erste: Wo war mein kleiner Bruder, der damals, fast ständig krank, mit einem Leistenbruch auf die Welt gekommen, monatelang von einer beidseitigen Mittelohrentzündung gequält wurde? Er schrie Tag und Nacht und meine Mutter musste sich ganz von mir weg, ganz zu ihm hinwenden. Meine Antwort: Ich weiß nicht, wo er war. Was ich aber weiß, ist, dass überall dort, wo mein Bett stand, Löcher und Gänge in die Wand gebohrt waren. Ich hatte sie mit dem Finger gebohrt und den Mörtel gegessen. Kalkmangel, sagte meine Mutter achselzuckend. Das mochte sein, denn ich erinnere mich, wie ich den kalkigen, mörteligen, zementigen Kellergeruch geliebt habe, tief zog ich ihn durch die Nase in meine Lungen.
    Und die zweite praktische Frage: Gab es damals noch nicht die Angst vor Fliegerangriffen, so dass meine Eltern unbesorgt ins Theater oder zu Freunden gehen und mich dabei zu Hause lassen konnten? Offenbar damals noch nicht. Am Tag sah ich Flieger am Himmel, Kondensstreifen. Nachts in dem Zimmer sah ich die drei, vier schwarzen Vogelsilhouetten auf dem Bilderbuch, die sich bis ins Unendliche wiederholten und verflüchtigten.
     

August 1940
     
    Es gibt Tage, die heben sich aus dem wattigen Vergessen hell, ja blendend hell hervor, sie stehen mit allen Einzelheiten vor dem Auge, Einzelheiten, die allerdings oft bizarr ineinander geschoben sind wie Traumsequenzen, deren Bilder mit leichtem Zittern stehen bleiben, um dann wieder in unsinnig galoppierende Hast zu verfallen.
    Der 8., oder der 7. oder der 6. August 1940 war so ein Tag. Wir, meine Mutter und ich und mein kleiner zweijähriger Bruder, der einmal nicht vor Krankheit und Schmerzen schrie, waren zur Sommerfrische in einem

Weitere Kostenlose Bücher