Auf der Flucht
abgefangen, wir gingen dann zusammen in den »Schießhaus-Park«, setzten uns auf eine Bank und erzählten uns was. Was? Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass es tröstlich war.
Nach 1950 habe ich sie wiedergesehen, in einem Barackenlager bei Ludwigsburg für »displaced persons«. Es wohnten da, unter der Obhut der amerikanischen Besatzungstruppen, Esten, Litauer, Letten. Meine Cousine, immer noch lieb und herzlich wie früher, immer noch ein herzensgutes Mädchen, hatte zwei Kinder und war schwer übergewichtig. Ihrem Lachen fehlten zwei Schneidezähne. Von den Fenstern der Holzbaracken hingen Leinen mit frisch gewaschener, grau gebliebener Wäsche.
Wahrend ihr Baby durch den Staub vor der Holzbaracke kroch, trank ich mit ihrem Mann, einem verbraucht aussehenden Letten mit dünnem angeklebten Haar um elf Uhr lauwarmes Bier aus der Flasche. Ich war damals sechzehn, aus der Ostzone auf Besuch im »goldenen Westen«, und saß da, herzlich vereinnahmt, im Schmutz und Chaos und hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich mich davor ekelte, bei ihnen, auf das Wärmste eingeladen, mitzuessen.
Der jüngste Bruder meiner Mutter hieß Artur. Er wohnte kinderlos mit seiner Frau, Tante Gerta, in Biala, in einer großen, ebenerdigen Einzimmerwohnung, in der mir, wenn ich auf Besuch war, immer der dampfig modrige Geruch von Kochen und Essen entgegenschlug, so dass ich mich kaum traute, tief einzuatmen. Ich habe diese Wohnung in wunderbarster Erinnerung, denn es gab dort ein Wilhelm-Busch-Album, und mich faszinierte vor allem Hans Huckebein, der Unglücksrabe: »Nein, spricht sie, er ist doch nicht gut / Weil er mir was zuleide tut«. Wie er mit den Füßen, die er in Kompott getaucht hat, über ihre weiße Wäsche stapft. Wie er sich in ihrem Strickzeug verheddert und sich schließlich, zwischen Wollknäuel und Stricknadeln, erhängt. Wie die Tante mit verbundener, aber tapfer erhobener Nase verkündet: »Bosheit ist kein Lebenszweck.«
Onkel Arthur war dann bei der Luftwaffe, als Funker in Rumänien. Er kam im Weihnachtsurlaub zu uns, redete in seiner schlichten Gefreiten-Uniform auf meine Mutter, meinen Vater und seine in ihren Uniformen wie aufgeputzt wirkenden Brüder Fredie und Kurt ein, meist aber zog er meine Mutter beiseite, sprach leise und eindringlich, wie unter Zwang; wenn ich dabei war, sah er mich traurig und liebevoll an, strich mir wohl auch über den Kopf, als wäre ich oder als wäre er Hans Huckebein, der Unglückrabe.
Er erzählte, wie schrecklich es in Rumänien sei und wie furchtbar der Krieg. Und dass der Krieg verloren wäre. Niemand wollte ihn hören und meine Mutter, die ihn liebte, bat ihn, ruhig zu sein. Und dann saß er im Kinderzimmer in einer Ecke und senkte den Kopf mit der dicken Brille und faltete die Hände in seinem Schoß, während die andern, die Karaseks, im Wohnzimmer vor Siegeszuversicht und guter Laune dröhnten. Artur ist später in Rumänien verschollen. Meine Mutter, Sylvia, die er liebte und zärtlich »Sliwi« nannte, hat nie wieder etwas von ihm gehört. Ich glaube, Arthur war der einzige Nicht-Nazi in meiner Verwandtschaft und Familie. Seine Frau fanden wir später verkümmert in engsten Verhältnissen in Leipzig.
Nachträglich kommt es mir so vor, als habe er wie ein düsterer Spielverderber bei unserer weihnachtlichen Hochstimmung gesessen. Meine Mutter wollte ihn wohl schützen, weil er so sensibel, so empfindlich war. Und sie wollte sich vor ihm schützen, weil er düstere Ahnungen in ihr weckte, die sie ganz, ganz weit von sich weg geschoben hatte. Waren sie nicht alle wieder zu Hause, ihre Brüder, ihre Schwäger, ihre Jugendfreunde, und hatten sich nicht ihre Wünsche, ihre Jugendsehnsüchte erfüllt, von denen sie beim Wandervogel, in der bündischen Jugendbewegung, geträumt hatten? Und stand das Deutschland, das ihnen ihre Heimat wiedergegeben hatte, nicht im Zenit seiner Macht? Großdeutschland, das sich anschickte, zum Herrn Europas zu werden?
Als mein Großvater im August 1940 starb, hatte Hitler in gerade neun Monaten sechs Länder besiegt, die Tschechoslowakei nicht mitgerechnet: Polen, Dänemark, Norwegen, Holland, Belgien und Frankreich. Der Krieg bestand damals aus Sondermeldungen, auf die ich als Kind süchtig war – wie später auf Fußballsiege bei EM- und WM-Spielen. Mehrmals am Tag wurde das übliche Radioprogramm durch eine Siegesfanfare unterbrochen, dann folgte eine Meldung, die besagte, dass unsere unschlagbare U-Boot-Flotte wieder so und so viel
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