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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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Bruttoregistertonnen aus einem britischen Geleitzug versenkt habe.
    Deutschland wirkte seltsam friedlich mitten im Krieg, jedenfalls 1941. Und über Luftangriffe machte man sich auch (noch) keine wirklich ernsthaften Gedanken, obwohl die Sirenen des Nachts und auch bei Tag immer häufiger heulten.
    Natürlich waren meine Spiele, wenn ich allein spielte, Kriegsspiele, Militärspiele. Da es kaum noch Zinnsoldaten oder Bleisoldaten gab, mussten Halma-Figuren herhalten. Ich ließ sie aufmarschieren, stellte sie in Reih und Glied. Es gab ein hierarchisches Problem. Von den gelben Halma-Männchen, den Generälen, gab es genau so viel wie von den roten, den Offizieren und den Soldaten, den grünen. Es mussten also viele Obere sterben, fallen, zurück in die Schachtel gepackt werden. Vom Winterhilfswerk, den Geldsammlungen mit klappernden Büchsen, bekam man Figuren, ich hatte einen Soldaten auf einem weißen Pferd. Er war mein oberster Befehlshaber und da der Führer nicht ritt, nannte ich ihn den Tenno, also den japanischen Kaiser. Mit den Soldaten aus Halma- und Mensch-ärgere-dich-nicht-Männchen und Winterhilfs-Werk-Figuren konnte man eigentlich nicht viel spielen. Man konnte sie aufstellen, Befehle schreien, man konnte stundenlang auf sie starren und warten. Und sie konnten »fallen«. Das taten sie – bis zur nächsten Aufstellung und Wiederauferstehung.
    In der Wohnung über uns wohnte ein Apotheker, ein älterer feingliedriger Herr mit schütterem Haar, der eine viel jüngere vitale Frau mit bronzeroter Mähne hatte. Gelegentlich besuchten wir die Wladarzs, wobei sich mein Vater mehr für Frau Wladarz und ich mich mehr für den beleuchteten Globus, der neben der Couch glimmte, interessierte und meine Mutter sich mit Frau Wladarz über ihre gleichaltrigen kleinen Kinder unterhielt; jede von beiden hatte damals zwei. Herr Wladarz beobachtete mich am Globus und erklärte mir die Welt, indem er sie um ihre Achse drehte. An einem Abend fiel mir auf, wie unendlich groß und erschreckend dunkel Russland wirkte, dunkel, weil es im Unterschied zum gelben China und zum rosafarbenen Deutschland dunkelgrün war. Polen lag hellblau dazwischen, es war ein Vorkriegsglobus. Auch Russland war damals nichts anderes als ein großes, erschreckend dunkles Wort für mich. Mein Großvater war im Ersten Weltkrieg in Russland gewesen. Als österreichischer Offizier, als Leutnant. Es gibt ein Foto von ihm, darauf ist er jung, schlank, hat lockiges Haar, einen verwegenen Schnurrbart und dunkle Augen, feurig, fast wie ein Ungar (seine Augen waren grün, sagte mein Vater). Er war das, was man in Osterreich »fesch« nennt, hatte einen Säbel mit Quaste an der Seite, den österreichischen hohen Tschako und einen weißen Handschuh in der Hand, heller Kragenspiegel mit je einem Stern, blitzende Uniformknöpfe, eine schlanke Taille, eben ein »Feschak«.
    Mein Großvater hat in Russland im Krieg 1914-1918 ein Bein verloren, eine Kugel hat es ihm 1915 bei Przemysl abgerissen, und er wurde in russischer Gefangenschaft neunmal operiert, da war er noch keine fünfunddreißig Jahre alt und als Baumeister und Bauingenieur Vater von einer Tochter und drei Söhnen. Er blieb bis 1917 in russischer Gefangenschaft, von den russischen Offizieren erzählte er später voll Hochachtung. Ich kenne Postkarten aus der Gefangenschaft von ihm, auf denen er mit seiner wunderbar gestochenen Schrift sogar kyrillisch geschrieben hat – die Adresse und den Absender. Auf den wenigen Fotos von damals, sie klebten bräunlich auf festem Karton, hat er einen dichten Vollbart und einen Beinstumpf. Später, nach dem Ersten Weltkrieg, trug er eine Prothese, die man auf Fotografien nicht erkennt. Auf den Bildern als fescher k. u. k. Leutnant der Reserve vor dem Krieg sieht er aus, als käme er aus einem Film, der »Radetzky-Marsch« heißt. Er sieht großartig aus. Etwas enttäuscht war ich, als mir mein Vater, der 1906 geboren wurde, erzählte, mein Großvater habe schon damals, 1914, eine Prothese getragen, eine Zahnprothese.
    Als mein Großvater in Gefangenschaft war, drohte der österreichischen Armee eine Niederlage an der russischen Front – bis Kaiser Wilhelm II die 11. deutsche Armee schickte, die die russischen Truppen zurückschlug und weit nach Osten vorstieß. Ich weiß nicht, ob mein Großvater Karl Kraus' »Die letzten Tage der Menschheit« kannte (ich halte das eher für unwahrscheinlich), aber gedacht hat er bestimmt so, wie Kraus einen »österreichischen

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