Auf der Flucht
feststellte, dass ich, nachdem mir in der Heiligen Messe die Oblate auf die Zunge gelegt worden war, obwohl ich mir alle erdenkliche Mühe gab, nichts empfand, nichts, nichts, nichts. Das heißt: Jesu Leib klebte mir am Gaumen und ich wusste mich seiner nicht mit Anstand und den nötigen Schluckbewegungen zu entledigen. Sonst aber war nix. Zum ersten Mal hatte ich gehofft, ein anderer, Besserer zu werden. Geklappt hat es aber leider nicht. Das hätte mir so passen können, einmal beichten, einmal knien, ein »Sakrament empfangen« – und schon ein anderer!
Und doch: Wie habe ich später die Pracht und die Herrlichkeit der katholischen Welt zu lieben gelernt, als Tourist in Venedig, in Rom, in Madrid, in Salzburg. Wie habe ich den Weihrauch geliebt, der mir in die Nase stieg, die prächtigen Messgewänder, den Orgelklang, vor allem aber die barocken Kuppeln, die, wenn es einen Himmel gäbe, ganz gewiss dessen Pforten sein müssten. Wie war ich froh erschrocken, als mein kleiner Sohn Niko auf Italienreisen eine geradezu wolllüstige Liebe voller ängstlicher Wonneschauer erlebte, wenn er Christi blutende Wunden oder die Pfeile im weißen Leib des heiligen Sebastian sah, Frauen, die am Kreuze weinten, die Dornenkrone, das Gesicht des Heilands blutig verschmiert. Und wie habe ich gelernt, dass das Verschwinden des Christentums nicht dessen fanatische Verbrechen (Ketzer- und Hexenverbrennungen, die Inquisition) auslöscht, sondern wie die Abwesenheit des Glaubens diese Untaten ins schier Unendliche steigert. Und das im Namen der Vernunft. Der Goya-Titel »Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer« hat mich ein Leben lang begleitet.
Und je weniger es die Religion gibt, desto mehr fehlt sie mir, obwohl ich doch nie glaubte.
Es war sehr heiß an diesem ersten Abend, den ich bei dem Freund meines Vaters verbrachte, und in der Baracke, auf die er über den Büroräumen seine Wohnung draufgesattelt hatte, unter einem Dach mit Teerpappe, war es noch heißer. Das störte damals aber niemanden, denn von Klimaanlagen waren selbst Frühkapitalisten der Bundesrepublik, zu denen Bert Schramm sicher gehörte, unvorstellbar weit entfernt. Wenn ich es recht überlege, gab es nicht einmal einen Kühlschrank. Die Fenster waren zwecks Lüftung an zwei Seiten der Küche leicht geöffnet, die Kirschen aber, die wir im Laufe des Abends aßen, schwammen in einer Schüssel mit kaltem Wasser. Erst gegen Ende des Abends, als die Glasschüssel fast schon leer war, fiel einem von uns auf – wir waren zunächst drei, Erika Schramm, eine Freundin von ihr und ich, aber eigentlich waren wir vier, weil auch der Rauhaardackel des Ehepaares dabei war, der viel Aufmerksamkeit absorbierte –, dass in den knackigen, süßen Kirschen Maden waren. Sie schwammen auf einmal auf dem Wasser, eine der Frauen sah sie, schrie: »Eine Made!«, wir öffneten andere Kirschen und sahen überall in der Nähe ihrer Kerne Maden geringelt. Aber da hatten wir glücklicherweise die meisten Kirschen schon gegessen und die Maden-Entdeckung bedrückte uns auch nicht nachträglich.
Bert Schramm war noch auf einem Geschäftstermin für seine Baufirma Beku (was wohl eine Abkürzung für Beton und Kunststeine war), die in drei Baracken auf einem eingezäunten Industriehof lag, in einem Industriegebiet mit mehreren solcher Barackenfirmen. Es gab dort Ziegelhaufen, Betonmischmaschinen, Industrieschrott und mittendrin wohnten die Schramms, in Bahnhofsnähe und weg von der mit Trümmern übersäten Innenstadt. Die Wohnung bestand aus rustikalen Sitzbänken, Tischen und Stühlen, Bauernmöbeln, die mit groben, karierten Kissen belegt waren, es gab Tee aus dünnen Tassen und Wein aus grünen Bocksbeuteln (wahrscheinlich trank ich das erste Mal in meinem Leben mehr als ein Glas Wein, noch dazu einen, der gewissermaßen in Sichtweite gereift und gewachsen war).
Ich bin nicht sicher, ob in der Wohnung eine kleine wurmstichige Bauernbarockmadonna stand, aber ich bin fast sicher. Und gepasst hätte das beliebte Kulturschmuckstück der fünfziger Jahre sicher in diese Wohnung, die einen für mich neuen Luxus ausstrahlte. Frau Schramm, damals etwa Mitte vierzig, gesund braun oder gesundbraun geschminkt, inklusive des Kleidausschnitts, der ermattete Haut offenbarte, hellblond die kurzen Locken, steckte in einem Dirndl-Kostüm, das die Flüchtlingsfrau aus dem Sudetenland kurzerhand zur Bajuwarin (Franken war da kein Unterschied) verwandelt hatte. Auch ihre Freundin, eine in meiner
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