Auf der Flucht
Erinnerung reizvolle dunkelhaarige Frau, deren wohlwollenden, ja, wie ich fand, einladenden Blicken ich oft und immer öfter im Laufe des Abends begegnete, trug ein Dirndl.
Die beiden freuten sich über mich – eine angenehme Abwechslung am Abend, ein Bote aus einer anderen Welt (Ostzone) und ein Zeuge einer anderen Zeit. Frau Schramm mochte mich allerdings nicht so gern wie ihr Mann (aber vielleicht bildete ich mir das auch nur ein). Das Ehepaar war kinderlos. Und Bert Schramm hatte mich, als mein Vater noch wichtig war und das Sagen hatte, als eine Art Ersatzsohn wahrgenommen – allerdings hatte er mich hartnäckig »Herbert« statt »Hellmuth« genannt. Er fand mich »aufgeweckt«, unterhielt sich drei Fragen und drei Antworten lang mit mir und sagte dann immer so etwas wie: »Na, prima!«
Ich saß also mit dem Hund und den beiden Frauen, bis Herr Schramm kam, gut gelaunt und missmutig zugleich, seine imponierend große und imponierend krumme Nase (die ihn trotzdem näseln ließ, er hatte wohl Polypen) war rot mit riesigen Poren und riesigen Borsten in den Nasenlöchern. Er kam von seiner Geschäftsbesprechung und hatte, so war zu merken, einiges getrunken. Er rülpste ab und zu ziemlich ungeniert, und mir fiel auf, dass auch er leicht folkloristisch gekleidet war: dunkelgrüner Janker mit Hirschhornknöpfen, Hosenträger und eine wildlederne Kniebundhose. Dazu trug er Haferlschuhe. Ich staunte und wusste auf einmal: Der Krieg war wirklich zu Ende. Hier gab es Leute, die sich nicht gegen Kälte oder aus Not oder Scham anzogen, sondern die mit ihrer Kleidung einer Art Mode gehorchten, die sie hier heimisch machte, die augenscheinlich nichts mit politischen oder militärischen Notwendigkeiten zu tun hatte. Außerdem hatte Frau Schramm rot geschminkte Lippen und lackierte Fingernägel. Und ihre schöne, mich immer wohlwollender anblickende Freundin ebenfalls.
Herr Schramm erzählte von seinen Tagesgeschäften und was der Bürgermeister gesagt habe, Frau Schramm erzählte vom Rauhaardackel, vorwurfsvoll gegenüber ihrem Mann, als habe der den armen Hund vernachlässigt, der den ganzen Tag auf ihn gewartet habe (»Schau, wie er dich anschaut und wedelt!«). Und Herr Schramm streichelte den Hund zärtlich und geistesabwesend, während er mich wohlwollend und geistesabwesend nach der »Zone« und meinen Eltern fragte und ab und zu sagte: »Das ist ja schrecklich!« Und dann: »Ihr müsst einfach rüberkommen!«
Der Dialog zwischen ihm und seiner Frau und der Austausch von Sympathiebezeugungen fand eigentlich nur über den Hund statt, er fragte, sie berichtete, wie das Tier den Tag verbracht, was es gefressen, wie es sich gefühlt habe.
Mir fiel auf, dass es keine bedrückenden Themen gab, bei denen irgendjemand ängstlich zur Seite blickte, als könnte er belauscht, abgehört werden. Selbst wenn Herr Schramm sagte, der Bürgermeister sei ein Idiot (es handelte sich um den Bürgermeister einer kleinen hessischen Gemeinde), aber er habe ihm ein paar Flaschen Wein zukommen lassen, senkte er die Stimme nicht. Und nachträglich weiß ich: Ich erlebte die erste unerschrockene Unterhaltung – egal ob wir über Hundebedürfnisse, Geschäftskontakte, die Zone (kurz) oder »die Amis« (noch kürzer) sprachen. Alles war auf einmal schrecklich privat, was auch daran lag, dass die schöne, gebräunte, üppige Freundin Erika Schramms hier »auf Besuch« war, weil sie sich gerade von ihrem Mann getrennt hatte, auch sie war kinderlos. Oder hatte er sie verlassen? Das schien mir undenkbar, wenn ich sie in ihrer ganzen Pracht vor mir sah, ihre tiefen Blicke auf mich einwirken ließ.
Ich trank weiter Wein, die beiden Frauen wurden immer lebhafter, Herr Schramm aber schnell müde, er habe einen anstrengenden Tag hinter sich und einen ebenso anstrengenden vor sich, er müsse ins Bett. Die beiden Frauen, besonders die Freundin von Frau Schramm, zogen einen Flunsch: Ach! Och!
Schon? Ich auch, denn der Wein schmeckte mir, obwohl ich ihn noch nicht zu schätzen wusste. Und ein Abend, bei dem es um nichts ging als um Gespräche, die nur die Blicke am Leben hielten, die unabhängig von den Themen zwischen mir und der von ihrem Ehemann getrennten Frau hin und her gingen, ein solcher Abend war so ungewohnt, dass er mir sehr gefiel.
Aber schon wurde ich in ein Zimmer gebracht, in dem ich schlafen sollte. Und die Freundin von Frau Schramm auch in eins, das noch dazu weit von meinem entfernt lag, durch das Schlafzimmer der Schramms getrennt
Weitere Kostenlose Bücher