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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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freigelassen – in die DDR. Meine Wut auf die beiden Grenzer, die mich mit einem derart demütigenden Trick gelinkt hatten, lässt sich bis heute in der Erinnerung anheizen: Auch in allen eher harmlosen Dingen regierte die pure Willkür zwischen den beiden »souveränen« Staaten.
     
    Der Westen und der Osten,
    vom Westen gesehen
     
    1950 in den Sommerferien ist es mir dann doch geglückt, in den Westen zu kommen und dann wieder zurück in den Osten – so als hätte ich nur eine normale Reise in den Schulferien unternommen und nicht einen der krassesten Systemwechsel geprobt (hin und zurück), die damals auf der Erde möglich waren.
    Es war so leicht, diesmal, dass ich mich nicht einmal mehr erinnere, wie es war. Wahrscheinlich haben mich ehrliche Schlepper durch das Niemandsland zur Grenze gebracht – bis ich nur noch ein paar Schritte über eine Waldlichtung marschieren musste – eine Stunde in der Mittagshitze auf einem Feldweg, dessen Rand von ungemähtem Gras und Unkraut gesäumt war, rote Mohnblumen, blaue Kornblumen, dichtes Kraut, Bienengesumm, Käfergebrumm.
    Dann war ich in Helmstedt, auf Autohöfen, Tankstellen, Parkplätzen, wo die Fernfahrer Pause machten, die Autobahn röhrte, ein nie enden wollender Strom kam von Berlin, fuhr nach Berlin, es waren die Laster, die Westberlin mit den Gütern versorgten, die die Stadt nicht nur am Leben hielten, sondern zum bestaunten Schaufenster des Westens machten. Mein Ziel war – vor allen Verwandten – Bert Schramm in Würzburg, der Freund meines Vaters, den wir auf der Flucht 1945 mitsamt seinem wohl gefüllten Sattelschlepper verloren hatten.
    Und dann war ich in Würzburg, ein Lastwagenfahrer, der mich von Fulda an mitgenommen hatte, setzte mich beim Bahnhof ab. Hier sah alles provisorisch aus, Ziegelhaufen, hässliche Ruinen, der Bahnhof eine Art großer Verschlag mit Behelfseingängen. Nur hinter den Schienen glänzten in Reih und Glied die Weinstöcke, zogen sich Hügel hinauf, und auf der anderen Seite, unter den disparaten Trümmern und zerstörten Kirchen, lag auf einem Berg die wuchtige Burg. Es waren die ersten Weinreben, die ich sah, und ich war enttäuscht, weil sich aus ihnen eine so seltsam kahle Landschaft am Ufer des Mains ergab. Sie wirkten wie der Sonne ausgesetzt. Klar, sie brauchten nichts als deren wärmende Strahlen.
    Und ich sah auf den Straßen etwas, das ich seit meiner frühen Kindheit so nie wieder gesehen hatte: Mönche in braunen Kutten und Nonnen in schwarzen Gewändern, die Hauben mit weißen Rändern dicht an die eingezwängten Gesichter gedrückt, so dass kein Haar zu sehen war. Aha, dachte ich, als ich dann auch noch amerikanische Jeeps die holprigen Straßen entlangfahren sah, vorbei an geordneten und abgesperrten Trümmerfeldern: Es ist wohl tatsächlich so, wie es die DDR-Propaganda behauptet hat. Hier regieren die Amis und die »Pfaffen«.
    Die Pfaffen, das war ein Schimpfwort meiner Eltern und Großeltern. Und ich weiß nicht, welchem unerklärlichen Zufall ich es verdanke, dass in meinem Bernburger Bücherschrank »Der Pfaffenspiegel« stand, jenes Werk, das die preußischprotestantische Aufklärung im Bismarck-Reich gegen die damals so genannten Ultramontanen aufbot (Ultramontan, weil sie durch den Papst beherrscht und bestimmt sein sollten, der ja jenseits der Alpen, also »ultramontan« herrschte).
    Ich hatte den »Pfaffenspiegel« weniger aus politischem Entsetzen als zur privaten Befriedigung verschlungen, weil mir die Übergriffe der Beichtväter auf schöne Sünderinnen im Beichtstuhl als Onanievorlage dienten. Jetzt aber, als ich die Mönche sah, die, für mich, hohläugig die Straßen entlanggingen, den Blick (für mich: heuchlerisch und verdrückt) gesenkt, da kamen mir alle Vorurteile gegen die Kirche (die meine Eltern, die Nazis und die Kommunisten in mir geweckt hatten) wieder in den Sinn.
    Zumal ich in der DDR zwei Jahre zuvor versucht hatte, mich vor der FDJ in die katholische Jugend zu retten, und Vikar Schmitz, der mich retten sollte, sich als jemand herausstellte, der es mehr auf mich als Knaben abgesehen hatte. Schnell wandte ich mich vom rechten Glauben ab (nachdem ich meine ganze Familie katholisch bekehrt und zur Taufe bewegt hatte, was meine Geschwister mir nachher höllisch übel nahmen und lange mit gebührender Verachtung nachtrugen) und wurde – wegen der plumpen Zudringlichkeit des Vikars, die ich drastisch abwehrte – schnell wieder Atheist.
    Ich weiß übrigens noch, wie enttäuscht ich

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