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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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Sachsen-Anhalt, die »Heraus zum 1. Mai« forderten und die »Deutsch-Sowjetische Freundschaft« hochleben ließen und die dem amerikanischen Imperialismus den Kampf ansagten, jetzt die Schilder von »Dr. Hillers« und »Vivil«, die auf glänzend lackiertem Blech Atemfrische, ja sogar promovierte Atemfrische versprachen, und die kreisrunden roten Schilder von Coca-Cola mit der wunderbar geschnörkelten, verschlungenen weißen Schrift – hatte ich nicht zuletzt, als ich noch nicht wusste, dass der Friede zu Ende war, in Lundenburg in Mähren, auf einem Bahnhof in einem beim Halten ungeduldig fauchenden Zug, Coca-Cola-Reklame gesehen? Und war jetzt der Friede endlich wieder da, wo ich das rote Blech am sauberen Straßenrand sah, dort wo die dunklen Asphaltstraßen ohne Begrenzung in grüne Gräben mit hohem Gras übergingen?
    Ich bin nie wieder mit einem Fahrrad durch diese wie vom Glück verwunschene Landschaft gefahren, obwohl ich es hätte tun können, viele Jahre lang. Ich habe es versäumt. Aber wenn ich später mit dem Auto auf solche Straßen einbog, bevor sie der Verkehr restlos verschlungen hatte, funktionalisiert zu einem Betonnetz von Ein- und Zufahrten, Straßen, Brücken, Über- und Unterführungen, habe ich immer diese Unschuld des Aufbruchs vor Augen gehabt; nein, nicht vor Augen, sondern im Innern als ein leicht ziehendes Sehnsuchtsgefühl.
    Wenn ich später von Metzingen nach Urach fuhr (wo ich in den Semesterferien beim Finanzamt oder als Deutschhilfslehrer am Progymnasium arbeitete) oder nach Tübingen, vorbei an den Obstbäumen am Straßenrand, die Achalm oder den Metzinger Weinberg im Hintergrund, vorbei an den schweren düsteren Keltern – immer war mir der erste süddeutsche Eindruck in der Wiederholung lebendig: an der Quelle der Donau mit ihren Kalkfelsen, am Blautopf auf der Alb, auf Burg Lichtenstein, bei Freunden in Schwäbisch Hall vor der gewaltigen Kirchentreppe, der geschäftigen Ruhe des Markts. Bei Ausflügen zum Hohenstaufen, auf Marktplätzen mit ihren schiefen, sich nach vorne neigenden Fachwerkhäusern, in denen es Apotheken gab, vor denen schmiedeeiserne Schilder herabhingen, als wäre man in kitschigen Postkarten-Heimatfilmen. Auf der Alb und am Bodensee und im kargen Oberland und in Tübingen-Lustnau, vor allem aber im Kloster Bebenhausen, wo der württembergisch-hohenzollersche Landtag damals zu Hause war und das Hölderlin-Archiv. Und immer wieder Wälder, die das herrliche Land umfassen, Kirchen, Klöster, Burgen, Marktflecken.
    Hätte ich irgendwo zu Hause sein können, hier wäre ich es gewesen. Und als ich zwei Jahre später an der Tübinger Uni zum ersten Mal Hölderlins Gedicht vom »Winkel von Hardt« hörte und las, wusste ich auch warum. Weil ich wusste, was zu Hause sein hätte bedeuten können, eventuell. Es war ein Land, das mir meine abhanden gekommene, meine gestohlene Geschichte hätte wiedergeben können. Wiedergeben, obwohl ich sie nie besessen hatte.
     
    Der Winkel von Hardt
     
    Hinunter sinket der Wald,
    Und Knospen ähnlich, hängen
    Einwärts die Blätter, denen
    Blüht unten auf ein Grund,
    Nicht gar unmündig.
    Da nämlich ist Ulrich
    Gegangen; oft sinnt, über den Fußtritt,
    Ein groß Schicksal
    Bereit, an übrigem Orte.
     
    In Stuttgart kam ich spät an, aber es war noch hell. Die Schwester meines Vaters und ihre Familie wohnten in der Rosenbergstraße, einer aufsteigenden Straße im Stuttgarter Kessel, die ich im Abendlicht als seltsam leer in Erinnerung habe, was auch daran lag, dass in den bräunlichen Mietshäusern wenig Läden waren, also auch wenige Schaufenster und Ladenschilder, und dass auf der breiten Straße nur wenige Fahrzeuge parkten. Stattdessen spielten Kinder auf den Gehsteigen Himmel und Hölle, ich hörte ihre spitzen Schreie, wenn sie sich beim Fangenspielen jagten. Dass sie schwäbisch sprachen, bemerkte ich noch nicht.
    Es war noch sehr schwül (wie oft im Stuttgarter Kessel), die Familie meiner Tante Lotte wohnte unter dem Dach, im fünften oder sechsten Stock, und da war es noch schwüler, ähnlich wie bei den Schramms. Mein Onkel Seppl war Maschinenbauingenieur und hatte im Krieg als Vertreter einer Stuttgarter Maschinenbaufirma in Bukarest gearbeitet. Jetzt war er wieder dort angestellt, wieder als Vertreter im Außendienst, und sollte bald die für uns unvorstellbar große Summe von 1000 D-Mark im Monat verdienen. Er war ein korpulenter Mann, an den Schultern, den Armen, dem Rücken, der Brust schwarz behaart wie ein

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