Auf der Flucht
absurde Weise auch war; aber das war glücklicherweise nach meiner Zeit, mich und meine Familie sollte die Mauer nicht mehr persönlich betreffen.
Diese »Grüne Grenze« trennte in Deutschland Thüringen von Bayern und Hessen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Mecklenburg von Niedersachsen und sie war offiziell so gut wie nicht vorhanden, obwohl es auf beiden Seiten Deutschlands einen Grenzschutz und eine gut ausgebildete Grenzpolizei gab.
Als Fünfzehn- und Sechzehnjährigem war die Grüne Grenze für mich eine abenteuerliche Herausforderung. Nachdem wir herausgefunden hatten, dass fast alle unsere Verwandten Krieg, Flucht und Vertreibung überlebt hatten und dass sie alle rund um Stuttgart oder in Bayern lebten, wollte ich und sollte ich sie besuchen – vielleicht auch als Vorhut meiner Familie, um zu erkunden, wie sie lebten und ob bei uns eine Chance bestünde, es ihnen nachzutun. Das war und wurde so nicht ausgesprochen, denn schließlich hatte mein Vater inzwischen eine ihn zufrieden stellende Arbeit, in der er einen gewissen Aufstieg und eine große Sicherheit fand (mit der schwächer werdenden Angst im Hinterkopf, man könnte ihm auf seine biografischen Schliche kommen). Und wir hatten eine Wohnung, eine schöne Wohnung, weil wir in den Vordertrakt ziehen konnten, nachdem Frau Forster gestorben und die Dramaturgin mit ihren beiden Töchtern nach Ost-Berlin gezogen war.
Ich machte meine Schularbeiten in einem wunderschönen Erker, der aus dem Zimmer hervorsprang, und hatte auf dem zum Wintergarten geschlossenen Balkon am Schlafzimmer der Eltern und Geschwister meinen absoluten Schatz: Meyers Konversationslexikon in der sechsten Auflage von 1905 mit den wunderschönen rotgoldenen Jugendstil-Lederrücken, das mit Supplementen dreiundzwanzig Bände dick war. Dieses Lexikon war mein Ein und Alles, mein wichtigster Besitz, mit ihm, so dachte ich, erschlösse ich mir alles, was mir in der DDR-Welt zunehmend verschlossen wurde. Als ich das gleiche Lexikon gut erhalten und ohne Supplemente Anfang der siebziger Jahre bei einem Antiquar entdeckte und mir auch leisten konnte, es zu kaufen, war dies einer der schönsten Momente wiedergewonnener Jugend, eine Art seltsamer Heimkehr.
Der Ost-West-Konflikt hatte sich verschärft und zugespitzt. Die USA hatten verlautbaren lassen, dass die Sowjetunion definitiv über Atomwaffen verfüge, Mao Tsetungs Volksarmee hatte ganz China erobert (was ich in einem Triumph-Film im Kino bei einem Pflichtbesuch mit der Schule mit dumpfem Schrecken zur Kenntnis nahm). Die Bundesrepublik und die »Deutsche Demokratische Republik« konstituierten sich, so dass wir alle befürchteten, die Grenze zum Westen würde bald unpassierbar sein. Eigentlich interessierte mich die große Politik nur dann, wenn sie sich auf meine Schul- und Lebenserfahrungen fokussieren ließ, obwohl ich natürlich die Namen Adenauer und Kurt Schumacher im Westen und vor allem die Allgegenwart der DDR-Oberen Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl durch Parolen, Plakate, Bilder an Wänden und in Schaufenstern ständig vor Augen hatte, auch wenn ich die Augen am liebsten davor verschlossen hätte. Und die Ohren auch.
Grenzgänger
Im Harz, an der Grenze, gab es schon Sperrgebiete, mit mehreren Sperrzonen, die man nur mit besonderen Ausweisen (wenn man Anwohner der Grenzdörfer war oder dort arbeitete) betreten durfte. Alle Straßen wurden von der Volkspolizei kontrolliert, die Dörfer direkt an der Grenze waren allerdings noch nicht evakuiert. Wer »rüber« wollte, fuhr also so nah wie möglich mit der Eisenbahn in Richtung Grenze und machte sich dann auf Schleichpfaden auf den Fußmarsch. Ich war leider denkbar schlecht auf das alles vorbereitet, ich hatte weder Karte noch Kompass, noch Informationen – aber immerhin wusste ich, wo der Westen lag. Als ich mich in einem Dorf, das in der äußersten Sperrzone lag und am frühen Nachmittag in der heißen Juli-Sonne tot und verlassen wirkte, bei dem einzigen Menschen, den ich traf, nach dem Weg erkundigte, fragte er mich, ob ich in den Westen wolle, und erklärte mir dann, noch ehe ich geantwortet hatte, er wisse einen Führer, der Leute über die Grenze schleuse, es koste zehn Mark. Als ich nickte, brachte er mich zu einer Scheune, wo schon ein Grüppchen Leute zusammenstanden, die nur halblaut sprachen. Ein Schlepper erläuterte uns, wie er uns über die Grenze bringen wolle, doch dazu müsse es erst dunkel werden.
Einige Stunden später zogen wir los. Und
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