Auf der Flucht
und also bewacht. Sie lachte noch einen Augenblick durch die Tür in mein Zimmer, während sie mir zuwinkte, bis sie von den Schramms abgeschleppt wurde. Und ich glaube, ich habe ihr ebenfalls zugewinkt.
Am nächsten Morgen wollte und sollte ich zu meinen Verwandten nach Schwaben weiter und Herr Schramm lieh mir ein Fahrrad (er hatte, wie ich fassungslos registrierte, mehrere davon auf seinem Firmengelände stehen, er selbst fuhr ein Auto und seine Frau und sein Bruder hatten auch schon eigene) und drückte mir zwanzig Mark in die Hand – eine unvorstellbar große Summe.
Als ich vierzehn Tage später wieder kam, um das Fahrrad zurückzubringen, verbrachte ich noch einen Abend mit Hund und Ehepaar, die Freundin war nicht mehr da. Und die beiden erzählten mir, wie sie mich neulich vor ihrer Freundin bewahrt hätten. »Die war ja kaum zu halten!«, sagten sie. Auch im Namen meiner Eltern! Bewahrt vor ihr! Ich war ihnen überhaupt nicht dankbar. Im Gegenteil: Einen Augenblick überkam mich eine fast heillose Wut! Mussten die sich meinem Leben in den Weg stellen?, dachte ich. Und: Was geht die das an? Dieses Gefühl Menschen gegenüber, die sich wissentlich und unwissentlich meinem Trieb in den Weg stellten, sollte sich in meiner Jugend noch mehrfach wiederholen. Es war immer ein ohnmächtiger Zorn. Oder eher Wut!
Ich fuhr also mit dem Fahrrad von Würzburg nach Stuttgart, mutterseelenallein, was vor allem heißt: Es gab niemanden, mit dem ich meine Eindrücke hätte teilen und austauschen können. Eine Fahrt ins Unbekannte, eine Entdeckungsreise. Die 180 Kilometer über Bad Mergentheim und Schwäbisch Hall, durch das Hohenlohesche, entlang und vorbei an Jagst und Kocher, fuhr ich an einem Tag von morgens bis abends, bergauf, bergab über kurvige Landstraßen, die leer waren, nur ab und zu ein Auto, ein Jeep, ein bäuerliches Pferdefuhrwerk, hinein in dunkle Wälder, die sich mit gezackten Schatten ankündigten, vorbei an satten Wiesen, im bald frühen, bald trägen Sonnenlicht, die Bäume breit ausladend, voll schwerer Früchte, Kühe, die wiederkäuend im Gras lagen, bucklig gegen den Horizont, wie schwere Steine in der Landschaft. Die Dörfer sauber, schmuck, glänzten vor hochanständiger Zufriedenheit, Burgen auf den Höhen, Fachwerk in den aufgeräumten Städten, Marktplätze mit Ständen voller Gemüse, Obst und Blumen, die Marktleute wuschen ihr Gerät an plätschernden Brünnen.
Ich erlebte, ich erfuhr zum ersten Mal die süddeutsche Landschaft und gleich dort, wo sie am schönsten und am geschichtsträchtigsten ist. Ich erlebte sie sozusagen mit vor bewunderndem Staunen offenem Mund. Hatte es hier keinen Krieg gegeben? Nur Geschichte und Vergangenheit, die sich wie selbstverständlich ins Heute zog? Blauer Himmel, insektenübersummte Wiesen, der dunkle, feucht nach Pilzen und Tannen riechende Wald mit Spinnweben im Gegenlicht – es war Liebe auf den ersten Blick. Und wie es so oft mit der ersten Liebe geht: Man spürt sie, aber man schätzt sie erst ganz, wenn man sich – man hat sie längst verloren! – an das wehe Wohlgefühl zurückerinnert, Jahre danach, wenn die Landschaft sich längst zu festen Szenen kristallisiert hat mit Stallgeruch und Waldgeruch, mit der leicht durchrauschten Stille, durch die ein Auto surrt, da naht es mit hellem Gebrumm, da fährt es vorbei, man riecht die Schärfe des Benzins, da verschwindet es um die Biegung, und der Wald verschluckt ziemlich rasch das Motorengeräusch.
Was war das aber auch für eine Landschaft, wenn man die Hügel hinanstieg, schwer im Pedal, und auf einmal, an sanfter Biegung, Gehöfte sah, einen Gasthof mit einer kleinen Tankstelle nebendran, mit lackierter Pumpstation und dem Schild einer Petroleumgesellschaft. Vor der Wirtschaft Tische, Bänke; in den Fenstern Blumen, die Türen ins Dunkle offen, als würden sie jeden Fremden einladen. Ich hatte dergleichen nie gesehen, ich war wie Eichendorffs »Taugenichts« (einem unverstandenen, aber geliebten Buch meiner frühen Jahre) auf der Fahrt durch ein Märchenland.
Die Ortseinfahrten mit Schildern, deren Namen ich ehrfürchtig buchstabierte, und am Rand der Orte immer wieder in frischem Lack glänzende Reklameschilder: Grün warben sie für »Vivil«, mit einer weißen Rolle für »Dr. Hillers«, mit einer gelben Flasche, in der schwarze kleine Kreise als Kohlensäure perlten, für »Sinalco«. Statt der schmutzig rot ausgebleichten Transparente an tristen, planen, freudlosen Ortseinfahrten in
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