Auf der Flucht
wurden schon in der Nähe der Grenze von Volkspolizisten gestellt und verhaftet. Die Art, wie die Polizei mit dem Schlepper sprach, ließ mich vermuten, dass diese Art von Grenzgeschäft ein abgekartetes Spiel war, jedenfalls wurden wir in ein behelfsmäßiges Gefängnis in einem kleinen verlassenen Haus gebracht, dort von Polizisten vernommen und registriert und einige von uns wurden über Nacht in einen kahlen Raum gesperrt, in dem keinerlei Möbel waren, nur eine offene Toilette in der Wand. Die Fenster waren zugenagelt.
An den Wänden hatten früher Inhaftierte Schriftzeichen hinterlassen, das Datum ihrer Inhaftierung und Verfluchungen. Aber auch ein pathetischer Spruch stand da, den ich nie mehr vergessen habe:
Hier saß ein Deutscher, von Deutschen gefangen
Weil er von Deutschland nach Deutschland gegangen.
Das hatte für mich die Kraft eines Volksliedes. Ich bin diesen beiden Zeilen vor wenigen Jahren, als die Brecht-Gesamtausgabe erschien, wieder begegnet, im »Herrnburger Bericht« von 1951, wo es in Versalien heißt:
DEUTSCHE
WURDEN VON DEUTSCHEN
GEFANGEN,
WEIL SIE VON DEUTSCHLAND
NACH DEUTSCHLAND
GEGANGEN.
Brecht erläutert dazu: »Im Mai 1950 wurden 10 000 junge Deutsche, zurückkehrend vom Berliner Pfingsttreffen, von der Bonner Polizei angehalten. Zwei Tage lang wurde ihnen die Heimkehr verwehrt.«
Das mag so gewesen sein. Trotzdem war dieses trotzige Kerker-Volkslied offenkundig auf eine andere Bewegung hin entstanden: die Fluchtbewegung von Ost nach West, nicht die Heimreise einer kommunistischen Jugendgruppe. Brecht hat den Spruch, der eine deutsche Flüchtlingserfahrung aus den fünfziger Jahren festhielt, offenbar umfunktioniert – »verfremdet«, könnte man sagen.
Ich bin am nächsten Morgen zurück zur Bahnstrecke Richtung Osten verbracht und dort ohne weiteres freigelassen worden. Meine Festnahme bei versuchter Grenzüberschreitung hatte keinerlei Konsequenzen, kein Nachspiel. Vielleicht, weil ich erst fünfzehn war und wahrheitsgemäß erzählt hatte, dass mein geplanter Grenzübertritt nur einem Ferienbesuch bei Verwandten gelte? Oder aus Schlamperei? Oder auch, weil das Grenzsystem noch lange nicht perfektioniert, der DDR-Staat noch lange nicht durchorganisiert war? Ich weiß es nicht. Jedenfalls war ich am nächsten Abend wieder zu Hause und die langen Ferien lagen in öder Leere vor mir. Ich habe mich mit Bekannten und Freunden über meine Erfahrungen unterhalten und aus all den Gesprächen eine praktische Lehre gezogen: Bei Hof, an der Grenze zwischen Thüringen und Bayern, sei es leichter, »rüber« zu kommen, viel leichter, weil da weniger Leute über die Grenze gingen.
Einen Tag später saß ich wieder im Zug, Richtung Südwesten. Ich war dieses Mal vorsichtiger und bin allein durch Felder und Wälder über die Grenze marschiert. Als ich an einem Dorfschild erkannte, dass ich in Bayern war, bin ich die leere, schöne Landstraße entlanggegangen, fröhlich, zuversichtlich, mit dem Gefühl, es geschafft zu haben. Es war ein herrlicher Tag, die Landschaft glänzte vor Unberührtheit in der sommerlichen Hitze – später hieß es, die Grenzgebiete wären zu wahren Biotopen mutiert, mit Froschgequake, wildem Gras, unverbrauchter Luft.
Ich marschierte auf das Dorf zu, offen, mitten auf der Straße, so als würde ich erwartet und gleich mit offenen Armen empfangen werden: Ein Ostler von den Westlern als einer der ihren. Ich lief direkt in die Arme zweier bayrischer Grenzbeamter, die am Ortseingang ihre Station hatten. Sie haben mich sofort festgenommen und in ihrer Grenzstation festgesetzt, freundlich, aber bestimmt. Der Abend brach an und ich verfluchte mich, weil ich den Westlern so gutgläubig in die Arme gelaufen war, anstatt einen Bogen um sie zu machen. Ob sie mich denn nicht laufen lassen könnten, ich wolle doch nur zu meinen Verwandten nach Stuttgart. Auf Ferienbesuch. Die beiden Grenzer sahen sich an und grinsten mir zu. Sie würden es sich überlegen. Unter einer Bedingung. Und dann zeigten sie mir ihre beiden total verdreckten, ja vor Dreck starrenden Fahrräder: Wenn ich ihnen ihre Räder säubere! Aber blitzblank! Ich machte mich unverzüglich ans Werk und putzte die halbe Nacht lang ihre Räder. Am Morgen brachten sie mich zu einem Treffpunkt, an dem Amerikaner mit mehreren Jeeps warteten. Andere Grenzer hatten andere Grenzgänger gefangen und führten sie den Amerikanern zu. Die Jeeps brachten uns zurück an die Grenze. Dort wurden wir
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