Auf der Flucht
Südländer, so dass ihm die Haare aus dem Kragen und den Hemdsärmeln über die Hände und die dicken Finger krochen. Er redete viel und war eisern auf seine Gesundheit bedacht. Er nahm mich mit in die Sauna, wir fuhren mit der Straßenbahn und ich schämte mich, weil er die Fahrgäste in Gespräche verwickelte und sie über ihre Gesundheit belehrte. Die Sauna, es war das erste Mal, dass ich eine besuchte, kam mir ziemlich schmuddelig vor, fast wie Bukarest, Balkan, Orient. Mein Onkel mit seinem weißen, fetten, behaarten Körper schwitzte und redete viel, während wir unter lauter alten Männern saßen, die sich wie mein Onkel mit Bürsten am Körper kratzten. Ich fühlte mich bald selbst irgendwie schmuddelig, und es kam mir auch seltsam vor, mich unter lauter alten Männern, teils klappernden Gerippen, teils feisten Glatzköpfen mit gewaltigen Schmerbäuchen, nackt aufzuhalten.
Zu Hause setzte mein Onkel seine Gesundheitstheorien wortstark und tatkräftig durch. So standen in der Küche, die eine abgeschrägte Wand hatte, drei Schüsseln auf drei Hockern, mit denen er mir und wahrscheinlich zum ungezählten Male meiner Tante Abwaschhygiene demonstrierte. Vorwaschen in der ersten Schüssel. Dann Waschen mit Geschirrspülmittel in der zweiten. Dann aber vor allem, wichtig! wichtig!, nachspülen in der dritten – damit die Gifte des Spülmittels entfernt werden. Das Wasser aus allen drei Schüsseln schwappte auf den Holzfußboden, der aus dunkel verfärbten Dielen bestand. Ich weiß nicht mehr, ob die Geschirrspülschüsseln auf den Hockern schon Plastik waren (ich glaube, mich an eine rote Schüssel zu erinnern) oder noch Emailleschüsseln, die es damals noch überall gab, auch als Waschschüsseln, bei denen sich meist der Rost in hässlichen Flecken über das aufgeschlagene schwarze Blech in die glänzende Glasur fraß wie ein Krebs – als Zeichen jeglichen Zerfalls. Mein Onkel warnte pausenlos vor Giften und war einer der ersten Kunden in Reformhäusern, die sich gerade wieder etablierten: Sauerkrautsaft, Joghurt, Sanddornsäfte. Meine Tante, eine zierliche, äußerst ängstliche Frau, deren ganzer Kummer es war, dass sie so hoch wohnte – es könnte ja jemand aus dem Fenster fallen –, hörte ihm halb belustigt zu und kommentierte teils leise und schnell klagend, teils verzweifelt lachend seinen ununterbrochenen Redeschwall. Mein Onkel rauchte nicht und trank nicht und aß im Prinzip nur gesunde Sachen. Dennoch ist er, obwohl kerngesund, mit sechzig Jahren ein Jahr später gestorben. Genau einen Monat bevor er das phantastische Gehalt von 1000 Mark zum ersten Mal ausgezahlt bekommen sollte.
Ob er wirklich so gesund gelebt hat? Oder ob er nur mir zuliebe mit seiner Familie (Tante Lotte, der Tochter Edith, die einundzwanzig, und dem Sohn Heinz, der, ein Nachzügler, erst zwölf Jahre alt war) eines Nachmittags hinauf zum Killesberg wollte, hinaus aus dem Kessel? Er ist mit uns allen mit der Straßenbahn in ein Ausflugscafé gefahren, wie sie damals überall auf den Anhöhen, etwa am Bopser unter der Weinsteige, die Stadt umzingelten und am Wochenende zu Ausflügen animierten. Das Riesencafé war bis auf den letzten Platz besetzt: drinnen wie draußen, lärmende Familien, die erst bei Tisch andächtig still wurden. Wir mussten in einer Schlange warten, bis wir einen Platz bekamen, nachdem unsere Nummer aufgerufen worden war. Unser Blick über die Stadt wurde bald auf unsere Kuchenteller gelenkt, auf denen fette Torten mit Sahne drapiert waren. Mein Onkel blickte mich stolz an, während ich den cremig-schweren Kuchen mit der Sahne, erst mit Glücksgefühl und dann mit der Bedrückung des Überdrusses – die ich mir nicht eingestehen wollte – aß. Das war sein unausgesprochener Triumph, die Überlegenheit des Westdeutschen über den armen Schlucker aus der Ostzone. Schokolade, Kakao, Sahne, Buttercreme, das waren 1950 die überzeugendsten Trumpfkarten der Westzonen, als welche sich die junge Bundesrepublik immer noch empfand.
»Das gibt es bei uns alles«, sagte mein Onkel, während eine Bedienung an uns vorbei Teller mit dunkelbraunen und hellgelben Cremetorten jonglierte. »Den Engländern geht es lange nicht so gut«, sagte er und lächelte breit. »Obwohl sie doch angeblich auch den Krieg gewonnen haben.« Und dann fragte er mich, ob ich noch eine Torte wolle oder noch einen Kakao. Ich aber konnte nicht mehr. Ich war zum ersten Mal in meinem Leben übersatt von Süßigkeiten.
Ich schlief im Zimmer
Weitere Kostenlose Bücher