Auf der Sonnenseite - Roman
Dienstreisen sorgte er für hohe Spesenrechnungen, weil ihm nur die besten Restaurants gut genug waren. In Geschäftsverhandlungen bastelte er ellenlange Wortgirlanden, die am Ende keiner mehr verstand.
Zum Rausschmiss kam es, weil Raake während der Verhandlungen mit Geschäftspartnern, die kein Deutsch sprachen, verlangte, dass sein jeweilig anwesender Mitarbeiter dolmetschte. Seine Untergebenen wollten es nicht glauben: Ihr neuer Chef, der »Weltökonom« Heribert Raake, sprach kein Englisch!
Ein Reinfall, dieser Raake, eine kostspielige Niete. Doch waren Bertholds nicht ganz unschuldig an diesem Fehleinkauf. Raake kam von der Konkurrenz und nach Kurt Bertholds Ansicht waren die dortigen Mitarbeiter selbstverständlich in allem besser als die eigenen Leute. Mit einer hohen Abfindung befreite er sich von seinem Irrtum, und der Irrtum zog weiter, um in der nächsten Firma die nächste Abfindung zu kassieren.
Auf Raake folgte Harry Schümann. Der kleine, dicke, an die berühmten drei Schweinchen aus den Micky-Maus -Heften erinnernde Experte für die arabisch sprechende Welt trug ein Toupet, das öfter mal verrutschte, er behauptete, von Marrakesch bis Dschibuti jeden Ali und jeden Mohammed zu kennen, und fuhr aus Prinzip nur französische Autos. In seinem Schreibtisch lagerten Potenzpillen, die seine junge, rotblonde Sekretärin, mit der der verheiratete Familienvater bald ein Verhältnis anfing, eines Tages entdeckte und, da er sich schon wieder von ihr getrennt hatte, genüsslich in der Firma herumzeigte.
Betrat Lenz’ vollbusige Sachbearbeiterin Schümanns Zimmer, tat er jedes Mal, als müsse er sich an seinem Schreibtisch festhalten, um seine ungeheuren sexuellen Triebe zu zügeln. Ferien am Wolfgangsee machten seines Erachtens nur Ladenschwengel.
Einmal sprach Lenz mit ihm über Berlin. Die Sowjetunion hatte mal wieder gegen die Anwesenheit von Bundespolitikern in der »Besonderen politischen Einheit Westberlin« protestiert. Harry Schümanns Überzeugung: »Ganz Berlin den Russen überlassen – dann gibt’s diese elenden Streitereien nicht mehr! Was haben wir denn von WestBerlin? Nichts als Kosten und Ärger.«
Der verdatterte Lenz wandte ein, dass damit zwei Millionen WestBerliner an eine Diktatur, einen jede politische Freiheit unterdrückenden Unrechtsstaat abgeschoben würden. Auch wenn das Ganze nur graue Theorie sei, allein ein solcher Gedanke sei schon frevelhaft.
»Ach was!« Schümann winkte ab. »Moral und Politik sind noch nie zusammengegangen. Die Frage lautet: Nützt uns dieser Berliner Wurmfortsatz was – oder schadet er nur?«
Ansichten über seine Heimatstadt, wie Lenz sie in den folgenden Jahren öfter zu hören bekommen sollte. Und das nicht nur von Geschäftsmännern, die Aufwand und Nutzen gegeneinander aufrechneten, sondern auch von Leuten, die sich für links und fortschrittlich hielten.
Mit seinen Kolleginnen und Kollegen verstand Lenz sich gut. Doch war es eine andere Art von Kollegialität, als er sie bisher kennengelernt hatte.
In OstBerlin hatte es vielerlei Grund zum gemeinsamen Lästern und Spotten gegeben, die Mangelwirtschaft brachte die Menschen einander näher: »Besorgst du mir Bretter, besorg ich dir Nägel.« Man lebte in einer Art Notgemeinschaft, wie Lenz sie von Flughäfen her kannte: Startet der Flieger aus irgendeinem Grund nicht, muss man in der fremden Stadt vielleicht sogar übernachten, dann rückt man zusammen. Da holt einer beim anderen Auskünfte ein, man schimpft gemeinsam auf die Fluggesellschaft, bald weiß man, wo jeder herkommt oder hinwill, und ist fast verwandt miteinander. Am nächsten Tag, wenn der Flieger endlich abhebt – lauter Fremde! Man braucht die anderen nicht mehr; jeder schaut in seine Zeitung oder tief in sich hinein: Was gehen dich die Sorgen der anderen an, hast selber welche!
Im Osten hatte er sich oft wie in einer dieser Wartegemeinschaften gefühlt, im Westen hob der Flieger stets pünktlich ab. Da brauchte man einander nicht. Freunde fand man im Sport-, Karnevals- oder Schützenverein und nur in äußerst seltenen Fällen am Arbeitsplatz. In OstBerlin hatte seine Sachbearbeiterin mit entschieden, ob er eine Gehaltserhöhung bekam oder nicht; hier wusste keiner vom anderen, was er verdiente. In jedem Einstellungsvertrag war festgehalten, dass über die Höhe des Gehaltes Stillschweigen zu bewahren sei. Günstig für die Firma, ungünstig für die Mitarbeiter, die nicht wussten, ob sie hoch genug gepokert hatten oder Monat
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